Lockdown, Literatur und Charakterzüge: Genie und Verbrechen

Man­che*n Kün­s­tle­r*­in möchte man gar nicht so genau kennenlernen. Wenn das Werk großartig ist, der Menschen dahinter aber Schattenseiten hat.

Portrait von Michel Foucault

Egal was Faucault vorgeworfen wird, seine Machttheorie ist deshalb ja nicht plötzlich falsch Foto: Michele Bancilhon/afp

Wir sitzen jetzt seit 15 Monaten unsere Zeit ab – und schon dieses „wir“ ist ein sehr fragwürdiges. Aber die meisten von uns hatten wenigstens leere Abende, und es ist ganz okay, wenn Sie diese Zeit nicht zur Selbstoptimierung genützt haben. Wir machen uns doch sowieso genug Druck.

Ich selbst habe versucht, die Zeit zu nutzen, um ein paar Bildungslücken zu schließen, mich ein bisschen der Literatur von Spätromantik bis klassischer Moderne zu widmen, habe mal wieder Heinrich Heines Gesamtwerk durchgepaukt, Honoré de Balzac, Charles Baudelaire, Gustave Flaubert, André Gide und einiges mehr gelesen.

Gräbt man sich durch diese Epochen, dann kann man gut und gern ein Jahr verbringen, in dem man nur Texte von reichen weißen Männern liest. Im 19. Jahrhundert spielten Frauen die zweite Geige, ja im Allgemeinen waren sie chancenlos. Meist kreisten Frauen eher an der Peripherie der Szene, doch nur wenige schafften es (wie etwa George Sand), selbst ein Zentralgestirn der Kulturgeschichte zu werden.

In Kunst oder Theorie zu Ruhm zu gelangen setzte aber meist auch voraus, aus wohlhabendem Haus zu kommen. Von Karl Marx bis Friedrich Engels, von Karl Kraus bis zur gesamten Frankfurter Schule, von Friedrich Pollock über Max Horkheimer bis Theodor W. Adorno, niemand von denen hätte seine herausragenden kulturellen Leistungen erbringen können, wäre er nicht ökonomisch von daheim oder durch Gönner abgesichert gewesen.

Kultureller Kanon von Rich Boys

Es gibt ein paar vereinzelte Ausnahmen, aber unser kultureller Kanon bis weit ins 20. Jahrhundert wurde von Rich Boys verfertigt. Die Genialität der Genannten wird durch diese Feststellung nicht getrübt. Aber wer diese Absicherung nicht hatte, der konnte nichts werden. Werk und Biografie lassen sich insofern nicht trennen.

Apropos Werk und Person: Liest oder unterrichtet man heute das Œuvre etwa von Michel Foucault, muss man sich neuerdings dafür rechtfertigen, gab es zuletzt doch Vorwürfe, der französische Theoretiker habe sich seinerzeit in Tunesien an kleinen Jungen vergangen, angeblich gegen Geld. Der Vorwurf steht jedenfalls im Raum, ist allerdings keineswegs erwiesen, anders als bei André Gide, dessen Neigung zu minderjährigen Burschen ziemlich zweifelsfrei feststehen dürfte.

Nun kann man daran vielerlei Überlegungen anstellen, ob der Status eines Kunstwerkes – wie die Romane Gides – durch Verfehlungen oder charakterliche Fragwürdigkeiten eines Künstlers berührt ist. Noch einmal anders ist das bei sozialwissenschaftlichen Entdeckungen eines Theoretikers wie Foucault. Horche ich in mich hinein, dann habe ich die Entdeckungen Foucaults stets relativ von der Person abgetrennt. Soll heißen: Ich habe sie eher wie Mathematikbücher gelesen. Über Techniken zur Selbstoptimierung oder über das Funktionieren von Machtstrukturen kann man heute nicht mehr sprechen, ohne die bahnbrechenden Überlegungen Foucaults zu würdigen, aber deswegen muss ich ja die Person des Wissenschaftlers nicht verehren.

Persönlich war mir Foucault als Person immer mehr wurscht als etwa Marx, aber gut, der war ja auch nicht gerade ein Heiliger.

Interessant ist dabei, dass wir intuitiv For­sche­r*in­nen am Feld der Sozialwissenschaften, bei denen es ja immer auch um Menschenbilder und damit im weitesten Sinne um Fragen der Moral geht, anders beurteilen als etwa Natur­wissen­schaft­ler*innen. Die Schwerkraft wäre einfach ein physikalischer Fakt, selbst wenn jener, der sie entdeckt hatte, ein ganz schlimmer Finger gewesen wäre.

Im Feld der sozialwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Forschung können wir offensichtlich Person und Werk weniger voneinander trennen, wobei nicht recht erklärbar ist, warum eigentlich. Foucaults Machttheorie wäre ja nicht plötzlich falsch, wenn jener, der sie entwickelte, ein fragwürdiger Charakter gewesen wäre.

Lebendig erheblich unerfreulicher

All das sind komplexe Fragen, die gar nicht so leicht beantwortbar sind, bedenkt man hinzu, dass wir hier ja nur über tote Forscher und Künstler (gendern muss ich hier nicht) sprechen, deren Werk vollendet vorliegt. Erheblich unerfreulicher stellt sich die Sache dar, wenn lebende Künst­le­r*in­nen in Skandale verwickelt sind, die mit Machtmissbrauch und Ähnlichem zu tun haben.

Niemand würde dann mit dem Ratschlag kommen, sie einfach mit ihrem Verhalten fortfahren zu lassen, da doch Person und Werk voneinander getrennt werden müssen, wenngleich ebenso das Argument nicht von der Hand zu weisen ist, dass große Künstler nicht unbedingt gute Menschen sein müssen. Aber der Geniekult kann auch kein Alibi dafür sein, schlechte Charakterzüge auszuleben.

Sie sehen schon, ich habe keine Antworten, sondern nur Fragen, und sie werden nicht unbedingt einfacher, je mehr man über sie nachdenkt.

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Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

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