Protestwelle in Kolumbien: Auf der Straße

Nach massiven Protesten nimmt Kolumbiens Präsident Iván Duque eine geplante Steuerreform zurück. Gleichzeitig schickt er die Armee in die Städte.

Eine Frau steht mit erhobenen Händen in einer Wolke aus Tränengas auf einer Straße

Wolken von Tränengas: der 1. Mai in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá Foto: ap

BOGOTÁ taz | Kolumbien ist in Aufruhr. Seit Mittwoch protestieren Tausende Menschen im ganzen Land gegen die jüngste Steuerreform der Regierung. Am Sonntagmittag, am fünften Tag der Proteste, kam die Überraschung: Präsident Iván Duque tat, was er bis dahin kategorisch ausgeschlossen hatte. Er forderte den Kongress auf, die Gesetzesvorlage des Finanzministeriums zurückzuziehen.

Zwei Tage vorher hatte Duque noch seinen Finanzminister zur einer Überarbeitung angewiesen und versprochen, dass die beiden umstrittensten Elemente gestrichen werden: keine Mehrwertsteuer-Änderungen, keine Erweiterung des Kreises der Steuerzahler*innen.

Dass es eine weitere Steuerreform brauche, daran hält Duque fest. Sie ist das ambitionierteste Projekt seiner Amtszeit.

Trotz einiger spontaner Feierei steht fest: In Cali und in anderen Städten geht der Streik vorerst weiter. Die indigenen Organisationen werden ebenfalls weiterstreiken. Themen gebe es genug, sagte ein Vertreter in einem Video, das große Aufmerksamkeit erfuhr.

Die schlimmste Wirtschaftskrise

Die Liste ihrer Forderungen ist lang. Darauf stehen unter anderem als Nächstes das Stoppen der Gesundheitsreform und des Einsatzes von Glyphosat sowie der Rücktritt von Präsident Duque und Finanzminister Carrasquilla, „weil sie unser Land ins Elend führen“.

Der Auslöser der Proteste war die neueste Steuerreform, die dritte in der Amtszeit von Präsident Iván Duque. Hauptknackpunkte: die geplante Mehrwertsteuererhöhung bei Lebensmitteln und Treibstoff und die massive Senkung der Einkommensfreibeträge.

Mit den zusätzlichen Einnahmen sollten vor allem Haushaltslöcher gestopft werden, aber auch unter anderem eine dauerhafte Unterstützung von maximal umgerechnet 18 Euro im Monat für die Ärmsten eingerichtet werden. Präsident Iván Duque nannte die Reform deshalb konsequent „Gesetz zur nachhaltigen Solidarität“. Duque will Schulden abbauen, unter anderem, damit die internationalen Rating-Agenturen nicht Kolumbiens Kreditwürdigkeit herabstufen.

Kolumbien erlebt die schlimmste Wirtschaftskrise der Geschichte. In der Pandemie sind Armut und Arbeitslosigkeit weiter gestiegen. Mehr als 74.000 Menschen sind mittlerweile an Covid-19 gestorben. Die Hilfen, damit die Ärmsten daheim bleiben können, betrugen umgerechnet nur 35 Euro monatlich, sind völlig unzureichend und erreichen auch nur einen Bruchteil der Bedürftigen. Kinder werden verstärkt von bewaffneten Gruppen angeworben, seit die Schulen geschlossen sind und damit auch die Schulspeisung ausfällt. Geld für die Umsetzung des Friedensabkommens, das auf dem Land zum Beispiel die ersehnte Infrastruktur bringen sollte, wird gekürzt. Alle Vorstöße für eine Grundrente lehnte die Regierung ab.

Was heißt schon „Mittelschicht“?

Die Prioritäten liegen anderswo: So waren Kolumbiens Militärausgaben im Jahr 2020 die zweithöchsten in Lateinamerika nach Brasilien. Ebenfalls Geld vorhanden ist für die tägliche steuerfinanzierte Propagandasendung des Präsidenten im Fernsehen.

„Der Reformvorschlag ist sehr grausam gegenüber der Mittelschicht und fordert nicht genug von den finanziell Starken“, sagt María Fernanda Valdés, Steuerexpertin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bogotá. Diese Mittelschicht ist jetzt vor allem auf der Straße, sagt Valdés.

Wobei der Begriff trügerisch ist: Er wird je nach Land – genau wie die Armut – unterschiedlich definiert. In Kolumbien gehören zu dieser „clase media“ die Menschen, die nicht unmittelbar in Gefahr sind, in die Armut abzusacken. „Das sind 15 Millionen Menschen, von denen die meisten nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn verdienen“, sagt Valdés. Sie verweist auf Berechnungen der Stiftung Fedesarollo, einer Forschungseinrichtung für Wirtschaft und Soziales. Demnach hat die kolumbianische Mittelschicht ein monatliches Pro-Kopf-Einkommen zwischen umgerechnet 158,80 und 304,59 Euro. Ausgerechnet diese Gruppe sollte die gewaltigsten finanziellen Einschnitte tragen.

Mit dem Militär gegen die Proteste

Einen Tag vor der Rücknahme der Steuerreform hatte Präsident Duque angekündigt, die Militarisierung der Städte voranzutreiben, um Vandalen und Terroristen Einhalt zu gebieten. Dagegen wehrten sich nicht nur die Stadtoberhäupter von Bogotá und Medellín, die keine Sol­da­t*in­nen in ihren Straßen wollen, sondern das brachte ihm auch eine Ermahnung vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte ein.

Wie viele Menschen insgesamt in den vergangenen Tagen zu Tode gekommen sind, ist unklar. Die Ombudsstelle des Volkes (Defensoría del Pueblo) bezieht sich nur auf Fälle, die bei der Staatsanwaltschaft angezeigt wurden. Es ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Fakt ist, dass alle Zahlen von offizieller Seite deutlich unter denen der Menschenrechtsorganisationen liegen.

Die Nichtregierungsorganisation Temblores hat angesichts der massiv angestiegenen und unkontrollierten Polizeigewalt vor allem beim Einsatz von Schusswaffen eine „traurige Entscheidung“ getroffen, schreibt sie am Sonntag – noch vor Duques Ankündigung, die Steuerreform zurückzunehmen – in einer Pressemitteilung: Sie rät allen Demonstrierenden, die noch auf den Straßen ihr Recht auf Protest wahrnehmen, sich schleunigst nach Hause in Sicherheit zu bringen. 24 Menschen wurden nach ihrer Rechnung bislang von der Polizei ermordet.

In Cali, dem Zentrum der Proteste, hatte die Polizei bis Freitagabend bei ihrem brutalen Vorgehen laut Angaben der angesehenen Menschenrechtsorganisation Red de Derechos Humanos Francisco Isaisas Cifuentes mindestens acht Personen ermordet. Eine Frau starb in ihrer Wohnung, weil die Polizei Tränengas verteilte, sie keine Luft bekam und schließlich einen Herzinfarkt erlitt. Die Organisation berichtet in ihrem Report detailliert über Menschenrechtsverletzungen durch Uniformierte während der Proteste und massive Behinderung ihrer Arbeit.

Cali erlebt die wohl größten Proteste seiner Geschichte

Nach der Pressekonferenz griffen unbekannte den Konvoi mit Mitgliedern der Organisation an und schossen auf ihn. Das Telefon von Darnelly Rodríguez, Koordinatorin für die Cauca-Region, wird seitdem immer unterbrochen, wenn sie Anrufe bekommt oder absetzen will. Ein Interview war nur schriftlich möglich.

Die Polizei trieb – wie auch in anderen Städten – Festgenommene in eine Sporthalle. Menschenrechtsorganisationen beklagten, dass sie keinen Zugang zu ihnen hatten. Nach ihren Berichten wurden den Menschen die Telefone weggenommen oder ihr Inhalt gelöscht. Manche wurden von Polizisten gefoltert, Frauen sexuell belästigt.

Ana Ramírez (25) war am Mittwoch und am Samstag zum Demonstrieren draußen. Gewalt hat sie nicht gesehen. „Wir sind müde. Dieses Land hat gewaltige Probleme bei der Bildung, bei der Gesundheit, auf dem Arbeitsmarkt. Es ist der Moment, von dieser Regierung Hilfe zu verlangen statt Gesetze, die uns schaden, gerade uns Jungen. Viele Freunde von mir konnten nicht weiter studieren, weil ihre Eltern oder sie ihre Arbeit verloren. Die Regierung garantiert uns derzeit kein einziges unserer Grundrechte.“

Ramírez ist Afrokolumbianerin, wie die Mehrheit der Bevölkerung Calis. Ein Großteil der Ein­woh­ne­r*in­nen sind Vertriebene oder Nachkommen von Vertriebenen, die vor dem bewaffneten Konflikt in der Pazifikregion geflohen sind. „Die Regierung zerstört den Friedensprozess, es gab enorme Rückschritte, auch wirtschaftlich“, sagt Ramírez.

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