Hier wohnte einst …

Einladung zur Erkundung der eigenen Stadt: Das Buch „77 versteckte Orte in Berlin“ von Johannes Wilkes

Von Katrin Bettina Müller

Auf Entdeckungstour in der eigenen Stadt unterwegs zu sein, das ist pandemiebedingt zum Ersatz für vieles geworden, für Sport, Kultur, das Feierabendbier mit Freunden. Da scheint ein Buch, das im Titel „77 versteckte Orte in Berlin“ verspricht, gerade zur rechten Zeit zu kommen.

Tatsächlich hat der Autor Johannes Wilkes, der auch Krimis und Reisebücher schreibt, darunter auch einige Geschichten, die von wirklichen Verstecken erzählen, Überlebensorten von Juden in der Zeit des Nationalsozialismus. Darunter ist das Leben von Maria Maltzan, die als junge Studentin der Medizin zuerst ihren jüdischen Freund und später weitere Männer bei sich versteckte, trotz großer Gefahr. Viele Jahre später hatte sie eine Tierarztpraxis am Oranienplatz in Berlin, die sich auch um Ratten und Hunde der Punker kümmerte. Und das ist die Adresse, unter der Johannes Wilkes ihre Geschichte erzählt.

Ein anderes Versteck, in einer heute nicht mehr existierenden Schrebergarten Kolonie in Lichtenberg, half Hans Rosenthal, beliebter Fernsehmoderator in den siebziger Jahren, zu überleben. In der Laube einer Freundin seiner Großmutter war er über ein Jahr lang untergetaucht, auf vier Quadratmetern, nur ein Radio zur Unterhaltung. Wilkes erzählt diese Geschichten mit Anteilnahme.

Aber viele der von ihm nach Bezirken geordneten Orte sind für den gelernten Berliner, und vermutlich auch für viele Neu-Berliner eher keine Überraschung. Wie Feinkost Rogacki in der Wilmersdorfer Straße in Charlottenburg, berühmt für Fisch und Austern, oder in Köpenick das Stadion an der Alten Försterei. Wilkes erzählt dazu die Geschichte vom Weihnachtssingen im Stadion, die seit ihrer Entstehung 2003 aber ein viel erzählter Liebling der Medien ist.

Viele Einträge sind anekdotenhaft, manchmal aus dem eigenen Erleben des Autors gegriffen, wie die Begegnung mit einer traurigen Trinkerin auf der Otto-Suhr-Allee, andere nacherzählt nach Biografien und Erinnerungen. Das ist manchmal interessant, etwa wenn man vor der früheren Schule von Marlene Dietrich erfährt, der Auguste-Viktoria-Schule in der Nürnberger Straße, wie ihr die Freundschaft zu einer Französischlehrerin half, aus der Einsamkeit als Kind zu finden und Freude am Lernen zu entwickeln. Bis die Lehrerin, die Französin war, die Schule bei Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 verlassen musste. Anderes aber ist eher eine unbefriedigende Reduktion auf ein Klischee, wie etwa die Geschichte der Schauspielerin Conny Froboess, die nur als Kinderstar auftaucht.

Trotzdem enthält der kleine Reiseführer durch die Stadt auch einige Überraschungen. Weit ab vom Zentrum, in der Hildburghauser Straße in Lichterfelde, gibt Wilkes ein Verwaltungs- und Fabrikgebäude der Nachkriegsmoderne Anlass, Billy Wilders Film „Eins, zwei, drei“ nachzuerzählen. Das Haus war der tatsächliche Firmensitz von Coca-Cola und Drehort der Komödie, in deren Mittelpunkt ein Coca-Cola-Chef und seine Mühen, das Getränk auch in Ostberlin zu verkaufen, steht. 1960/61 gedreht, wurde der Film im Kalten Krieg zunächst kein Erfolg, Jahrzehnte später aber in Berliner Kinos zum Kult.

Johannes Wilkes schreibt ein wenig bieder und arbeitet dann doch einen sehr bildungsbürgerlichen und deutschen Kanon an Künst­le­r:in­nen und Wis­sen­schaft­le­r:in­nen ab. Migrantische Geschichten aus Berlin oder subkulturelle Orte sind seine Sache nicht. Der Stadtteil Neukölln muss mit einem einzigen Eintrag auskommen und der gilt auch noch Turnvater Jahn in der Hasenheide.

Johannes Wilkes: „77 versteckte Orte in Berlin“. Gmeiner Verlag Meßkirch 2021, 238 Seiten, 14,99 Euro