Kein Jugendsport während Corona: Bewegung hilft

Die Pandemie macht Kinder psychisch krank. Die Einschränkung ihrer sportlichen Betätigungsmöglichkeiten wirkt da kontraproduktiv.

Jugendliche tanzen in einem Raum

Gemeinsam austoben, zum Beispiel beim Hiphop, geht derzeit kaum für Teenager Foto: Bernd Wüstneck / dpa

BREMEN taz | In normalen Zeiten geht ­Esther mehrmals die Woche zum Kampfsport-Training. Doch das geht jetzt nicht. Wegen Corona. Deshalb hat sich die 18-Jährige, die eigentlich anders heißt, ein Alternativ-Sportprogramm zurecht gelegt, wie sie bei einer zufälligen Begegnung Mitte April am Werdersee erzählt.

Sie kommt gerade aus dem eiskalten Wasser, vorher ist sie gelaufen: ihr Tagesprogramm. Dafür steht sie morgens eine Stunde früher auf. Esther schätzt, dass sie etwa drei Mal so viel Sport macht wie vor der Pandemie. Es tue ihr gut, sagt sie. „Und was soll man auch sonst machen?“

Esther, das sagt sie selbst, ist kein typisches Beispiel. Denn die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen bewegt sich aktuell weniger als vor der Pandemie, wie Studien zeigen. Das ist keine überraschende Feststellung, sind doch Sportvereine seit Monaten entweder ganz geschlossen oder bieten nur noch ein Spar-Trainingsprogramm an, je nachdem, um welche Sportart es sich handelt.

Drinnen durften bis zum Inkrafttreten des neuen Infektionsschutzgesetzes („Bundesnotbremse“) in vielen Bundesländern sowohl Erwachsene als auch Kinder nur allein, zu zweit oder mit dem eigenen Haushalt trainieren. Draußen war dies zum Beispiel in Bremen Kindern und Jugendlichen bis einschließlich 14 Jahren bis vor zwei Wochen erlaubt mit bis zu 20 Personen plus zwei Trainer*innen.

Jetzt ist ab einer Sieben-Tages-Inzidenz von 100 Indoor-Sport ganz verboten, draußen ist Sport dann ab 14 Jahren nur noch zu zweit oder mit dem eigenen Haushalt erlaubt, bei einer Sieben-Tages-Inzidenz unter 100 nur noch mit maximal fünf Personen. Und das auch nur „kontaktlos“ – was auch immer das heißt.

Studien: Aktivität nimmt ab

Auch der Sportunterricht findet seltener statt oder – abhängig von Bundesland und Infektionsraten – auch gar nicht. Nach einer noch unveröffentlichten internationalen Studie, an der der Bremer Sportwissenschaftler und Präventionsforscher Mirko Brandes beteiligt war, bewegen sich nur noch zehn Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen gemäß den WHO-Empfehlungen. Im ersten Lockdown im vergangenen Frühjahr waren es noch doppelt so viele gewesen.

Für Deutschland war Brandes’ Kollege Alexander Woll aus Karlsruhe in einer Befragung von 1.700 Kindern und Jugendlichen zwischen vier und 17 Jahren zu dem Ergebnis gekommen, dass vor einem Jahr die sportliche Aktivität im Durchschnitt um eine halbe Stunde täglich abgenommen, die Alltagsaktivität aber sogar um eine halbe Stunde zugenommen hatte – vermutlich wegen der außergewöhnlich milden Witterung und der Tatsache, dass Schulen und Kindertagesstätten komplett geschlossen waren.

Allerdings schränkt Woll ein: „Spielen im Freien, Fahrradfahren, Garten-oder Hausarbeit haben nicht dieselbe Intensität wie Training und Wettkämpfe im Verein.“

Die beiden Sportwissenschaftler Brandes und Woll haben im Februar in einem unveröffentlichten Arbeitspapier gefordert, körperliche Bewegung nicht als notwendiges Opfer im Kampf gegen die Pandemie zu betrachten, sondern im Gegenteil als Teil der Lösung zu begreifen.

Schließlich sei die positive Wirkung von Sport auf Widerstandskraft und Immunsystem durch internationale Studien belegt, auch spezifisch bezogen auf die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 (schwer) zu erkranken. Zudem seien positive Effekte auf die psychische Gesundheit nachgewiesen. Es lägen Beweise vor „für eine Reduktion von Angst und Depressionen durch körperliche Aktivität“.

Ebenfalls belegt ist, dass die Gefahr, aufgrund der Pandemie-Situation psychisch zu erkranken, erhöht ist, mittlerweile auch für zuvor psychisch gesunde Menschen. Das gilt auch für Kinder: „Fast jedes dritte Kind leidet ein knappes Jahr nach Beginn der Pandemie unter psychischen Auffälligkeiten“, hatte das Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg Ende Februar die Ergebnisse einer Befragung zusammengefasst.

Sport hilft der Psyche

Dazu waren Mitte Dezember bis Mitte Januar 1.000 Elf- bis 17-Jährige sowie mehr als 1.600 Eltern von Sieben- bis Zehnjährigen befragt worden, mehr als 80 Prozent von ihnen hatten an einer ersten Befragung im Juni teilgenommen. „Ängste und Sorgen haben bei den Kindern im Vergleich zur ersten Befragung noch einmal deutlich zugenommen“, schreiben die Autor*innen, „sie zeigen zudem häufiger depressive ­Symptome sowie psychosomatische Beschwerden wie zum Beispiel Niedergeschlagenheit oder Kopf- und Bauchschmerzen“.

Das For­sche­r*in­nen­team hatte auch abgefragt, wie viel Sport die Kinder noch machen würden. Bei der ersten Befragung hatten knapp 20 Prozent angegeben, gar keinen Sport mehr zu machen, bei der zweiten hatten dies doppelt so viele gesagt. Dabei sei Sport „ganz wesentlich für das psychische und physische Wohlbefinden“, schreibt die Studienleiterin Ulrike Ravens-Sieberer. „Neben der für die gesunde Entwicklung so wichtigen Bewegung treffen Kinder und Jugendliche beim Sport auch ihre Freunde, lernen, sich in eine Mannschaft einzuordnen und mit Konflikten, Siegen und Niederlagen umzugehen.“

Sportwissenschaftler Mirko Brandes fordert deshalb Po­li­ti­ke­r*in­nen zu einer neuen Kommunikationsstrategie auf. Bisher, so heißt es in einem offenen Brief, den Brandes’ Arbeitgeber, das Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (Bips) Ende März an Bremer Po­li­ti­ke­r*in­nen verschickt hat, würde „Bewegung und Sport vordergründig leider immer noch auf das damit verbundene Infektionsrisiko reduziert“.

Zu spüren bekommen das Kinder und Jugendliche, die gegen das Infektionsschutzgesetz verstoßen, wenn sie im Freien kicken. Eine 17-Jährige aus Hamburg berichtet, wie sie immer wieder von der Polizei verjagt wird, wenn sie mit ihren Freunden Skateboard fährt. Dabei hatte genau das gegen ihre Panikattacken geholfen.

Dass das Infektionsrisiko im Freien ausgesprochen gering ist, hatten vor vier Wochen in einem offenen Brief Ae­ro­sol­for­sche­r*in­nen erklärt, also Wissenschaftler*innen, die sich auch mit der Verbreitung von Viren über die Luft beschäftigen. Christof Asbach, der Präsident der Gesellschaft für Aerosolforschung, hatte daraufhin in einem Interview erklärt: „Im Freien gibt es keine Gründe, die dagegen sprechen würden, Sport wieder zu erlauben. In Turnhallen muss man kritischer hinsehen, aber man kann sie mit guten Hygienekon­zepten mit einem überschaubaren Risiko wieder öffnen.“

Lieber mit Maske als gar nicht

Den offenen Brief aus Bremen unterschrieben hat neben Sportvereinen, Schul­lei­te­r*in­nen und dem Vorsitzenden des Bremer Berufsverbandes der Kin­der­ärz­t*in­nen auch Brandes’ Chef Hajo Zeeb, der in Bremen als Epidemiologe den Senat zum Umgang mit der Pandemie berät und auch immer wieder öffentlich gesagt hat, wenn er etwa eine Lockerung zu riskant fand. „Wir sagen nicht: Sport einfach erlauben, egal wie“, sagt Brandes. Und wenn es nur mit Abstand und Maske erlaubt würde, dann wäre das immer noch besser als gar kein Sport.

Die Begrenzung auf 14 Jahre hält Brandes für falsch, weil auch ältere Teenager noch sehr darauf angewiesen seien, mit anderen zusammen Sport zu machen. „Erwachsene können alleine oder zu zweit joggen, da spielt der soziale Aspekt eine geringere Rolle als bei Jugendlichen.“ In der taz war vor Kurzem ein Jugendtrainer des Basketballvereins Alba Berlin mit den Worten zitiert worden: „Ein Kind macht im Gegensatz zu einem Erwachsenen keinen Fitnessport, ein Kind bewegt sich mit den anderen zusammen – oder gar nicht.“

Die Un­ter­zeich­ne­r*in­nen des offenen Briefs fordern Landesregierungen und Bundesregierung dazu auf, die Bedeutung von körperlicher Bewegung so offensiv zu promoten wie die Abstandsregeln. Brandes erinnert an eine Anzeige der Bundesregierung, auf der stand: „Bleiben Sie zu Hause“, dazu abgebildet war eine Frau auf dem Sofa. „Es müsste heißen: ‚Bleiben Sie zu Hause – aber in Bewegung.‘“

Welche Auswirkungen solche politischen Botschaften haben können, zeigt eine kanadische Studie. Das Forscher*innenteam, das die Bedeutung von körperliche Aktivität als Coping-Strategie für die psychische Belastung in der Pandemie untersucht hatte, vermutet, dass ein signifikanter Teil der Bevölkerung wegen der „Bleib zu Hause“-Ansagen im ersten Lockdown körperlich passive Aktivitäten gewählt habe, um mit Stress umzugehen. Unter anderem hatte ein Fünftel der Befragten gesagt, in der Pandemie seltener Sport zum Stressabbau zu nutzen als vorher.

Esther ist für diese Botschaft zum Glück nicht empfänglich.

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