„Junge Welt“ im Visier vom Geheimdienst: Zur Verfassung des Klassenkampfs

Seit 2004 wird die „Junge Welt“ im Bericht des Verfassungsschutzes aufgeführt: Ihre Überzeugungen richteten sich gegen die Demokratie.

Erschöpfte Krankenpflegerin

Pause vom Klassenkampf: Erschöpfte Pflegerin einer Corona-Station im Klinikum Bonn Foto: Daniel Etter/laif

Schreiende Typo in den Überschriften, mal gedehnt, mal gequetscht – immer laut. Jägerzäune aus Beton, darunter im Text ein akkurat geschnittener Blockrasen, mit Serifen immerhin. Das einzig sofort auffällig verbrecherische Merkmal der Tageszeitung junge Welt ist ihr Layout.

Nicht dafür jedoch, sondern für seine angeblich „gesichert extremistischen Bestrebungen“ wird das Blatt aus Berlin seit 2004 regelmäßig im Verfassungsschutzbericht aufgeführt. Seit einigen Tagen wissen wir aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag etwas mehr über die Beweggründe für diesen, sowohl Presse- als auch Gewerbefreiheit nicht unerheblich einschränkenden Eintrag ins Klassenbuch.

Die junge Welt, nach eigener Darstellung „marxistisch orientiert“, war in der DDR das Hausblatt der FDJ, des staatlichen Jugendverbandes, durchlebte turbulente Zeiten nach dem Mauerfall, mit unsicheren Eigentums- und Redaktionsverhältnissen, und wird seit Ende der 1990er Jahre vom Verlag 8. Mai herausgegeben, der einer Genossenschaft gehört. Mit einer täglichen Druckauflage von mehr als 20.000 Exemplaren sieht der Verfassungsschutz die Zeitung als das „bedeutendste und auflagenstärkste Printmedium des Linksextremismus“. Schließlich basierten „marxistische Grundüberzeugungen … auf Aspekten, die sich gegen Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung richten“ würden. So widerspräche „die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal produktionsorientierter Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde“.

Wer würde da widersprechen wollen? Wie beiläufig der Wert, „der jedem Individuum um seiner selbst willen zukommt“, vergessen und übergangen wird, verdeutlicht allein der aktuelle und brutale Euphemismus der sogenannten Arbeitsquarantäne. Überhaupt heben die endlosen Monate der Pandemie die tiefe soziale Spaltung der Gesellschaft auf ungewohnt drastische Weise hervor. Eine Spaltung in jene, die selbst unter buchstäblich lebensgefährlichen Bedingungen nichts als ihre Arbeitskraft zu Markte tragen können, jene, die ihre halbwegs sicheren Nischen finden, und jene, deren Vermögen auf dem Rücken der niederen Chargen vom Unermesslichen ins Unvorstellbare wachsen.

Im Behördenpressespiegel

Was aber ist der Ausweg, was die verfassungskonforme Auflösung dieses Widerspruchs? „Unser gemeinsames Ziel ist eine klassenlose Gesellschaft“ – zitiert das Bundesinnenministerium einen einschlägigen „Akteur“ – und zwar missbilligend und zum Beleg der Verfassungsfeindlichkeit der jungen Welt. Denn verfassungsfeindlich ist offenbar nicht die Existenz der Klassengesellschaft, sondern die Unbotmäßigkeit, sie als solche zu beschreiben.

Die junge Welt lasse insofern „eine bestimmte inhaltliche Linie erkennen“, die sie relativ einseitig über „Themenauswahl und Intensität der Berichterstattung“ präsentiere, ohne ein „breites Spektrum von verschiedenen Meinungen und Ansichten“ widerzuspiegeln. Die Zeitung ist also ein Tendenzmedium. Anders als alle anderen Tageszeitungen in Deutschland? Eigenartig, dass Redaktionen üblicherweise schon arbeitsrechtlich als Tendenzbetriebe gehandelt werden. Das ignorieren kann nur, wessen Blickfeld vom jahrelangen Konsum der Behördenpressespiegel in der stumpfsinnigen Wartezeit zwischen den Regelbeförderungen hinreichend verödet wurde.

Ein Verständnis für Text und Kontext war sicher noch nie eine besondere Stärke der Geheim- und anderer Polizeien. Sonst wäre kaum zu erklären, was für grandiose Werke, ob nun journalistisch oder literarisch, unter den Augen der Zensurbehörden aller Länder und Zeiten doch veröffentlicht werden konnten. Man fragt sich fast, ob der Verfassungsschutz die Existenz der jungen Welt überhaupt bemerkt hätte, wenn diese das Attribut „marxistisch“ nicht selber annoncieren würde.

Überhaupt lehnt die Bundesregierung es ab, ausführlicher darüber aufzuklären, welche konkreten Vorwürfe den Mitarbeitenden der jungen Welt und ihrem Umfeld zu machen sind. Begründet wird dies mit dem „Staatswohl“, könnten vertiefte Erläuterungen doch „Rückschlüsse auf den Aufklärungsbedarf, den Erkenntnisstand sowie die generelle Arbeitsweise des BfV gezogen werden“. Die haben ein Abo. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat ein Abo der jungen Welt.

Tendenzbetrieb Zeitung

Der vielleicht schwerste Vorwurf gegen die Zeitung, den man sich beim Blättern angelesen hat, aber ist der einer unterstellten Unterstützung politischer Gewalt. Die Zeitung biete „Vertretern von linksextremistischen Organisationen im In- und Ausland regelmäßig Gelegenheit, in eigenen Beiträgen und/oder Interviews ihre politischen Positionen zu propagieren“. Diese Beiträge würden nicht der journalistischen Dokumentation dienen, behauptet die Bundesregierung. Die Redaktion mache sich diese Positionen nämlich zu eigen, da sie sich „nicht ausdrücklich von deren Inhalt distanziert“.

Nun sollen an dieser Stelle nicht die Sympathien von Einzelpersonen oder auch Redaktionen für Bombenleger oder Bomberpiloten bewertet werden, aber Distanzierung vom Objekt ist nun wahrlich nicht die Aufgabe des Journalismus. Er soll informieren und wenn er mag kommentieren. Ganz bestimmt aber soll er sich von vermeintlichen Verfassungsschützern, die sich hier als bewaffneter Arm der in ihren Objektivitätsfetisch vernarrten deutschen Journalismusschulen gerieren, nicht vorschreiben lassen, wer oder was auf welche Weise sein Berichtsgegenstand ist.

Marxismus aber will mehr als berichten: „Marxisten beabsichtigen nicht nur zu informieren, sondern eine ‚Denkweise‘ herauszubilden, um bei den Bevölkerungsgruppen, die sie als Unterdrückte oder Ausgebeutete identifizieren, Verständnis und Bereitschaft zum Widerstand hervorzurufen.“ Marxistisch oder nicht: Wie anders, denn als offen ausgetragenen Klassenkampf soll man denn zum Beispiel den Konflikt um den Berliner Mietendeckel nennen? Die in nach Geschlechtern getrennt eingesperrten Spargelkolonnen? Das Hartz-IV-Regime? Die Milliardengeschenke für Fluggesellschaften? Die unterbezahlten Pflegekräfte?

Mit dem Ende des sozialdemokratischen Zeitalters, mit der Erosion der Sozialpartnerschaft, jenes Hand­schlag­deals eines zwar unfair, aber immerhin doch ein wenig breiter geteilten Reichtums, treten die Widersprüche nun wieder deutlicher zutage.

Mal genauer schauen?

Eine Klasse hat entschieden, dass sie es nicht mehr nötig hat, ihren Teil zu jenem Ausgleich zu leisten, der die schlimmsten Härten für Lohnab­hängige und Arbeitslose im Interesse des sozialen Friedens auffing. Eines sozialen Friedens, der unter anderem Teil des Gründungskonsenses der Bundesrepublik und ihres Grundgesetzes war.

Man will den Mar­xis­t*in­nen bei der jungen Welt nicht zu nahe treten, aber eventuell gibt es weitaus gefährlichere Verfassungsfeinde als sie. Vielleicht mag sich der Verfassungsschutz bei Gelegenheit ja deren Zeitungen mal genauer anschauen.

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