In der Vergeltungsspirale

In Tel Aviv fliehen die Menschen in Luftschutzbunker, im Gazastreifen werden innerhalb von 24 Stunden 90 Ziele getroffen – darunter das Haus des politischen Chefs der Hamas

Nach nächtlichen Bombardements verlassen viele Palästinenser ihre zerstörten Häuser und suchen einen sicheren Unterschlupf, in der Stadt Gaza am 16. Mai Foto: Majdi Fathi/NurPhoto/imago

Aus Tel Aviv Judith Poppe

Plötzlich taucht etwas im israelischen Straßenbild auf, das vorher völlig untergegangen war: Luftschutzbunker. Geöffnet werden sie nur in Zeiten militärischer Auseinandersetzungen, dann reißen sie, aneinandergereiht auf dem Hauptstraßen, wie große Mäuler ihre grünen Eisentore in die unterirdischen Schutzräume auf.

Auch in der Nacht von Samstag auf Sonntag flohen Menschen in diese unterirdischen Löcher oder zogen sich, bei neueren Bauten, in ihre Hausflure zurück. Die Raketenangriffe auf israelisches Gebiet, auch auf Tel Aviv und umgebende Städte und auf an den Gazastreifen benachbarte Städte, gingen am fünften Tag der militärischen Auseinandersetzungen zwischen der den Gazastreifen kontrollierenden Hamas und Israel weiter. Das israelische Militär teilte am Sonntag mit, es habe allein in den vergangenen 24 Stunden über 90 Ziele im Gazastreifen angegriffen – darunter das Haus des Chefs des politischen Flügels der Hamas im Gazastreifen, Jahia Sinwar. Ob Sinwar bei dem Angriff getötet wurde, blieb zunächst unklar.

Die Anzahl der Toten beläuft sich in Israel auf mittlerweile 10, darunter ein Kind. In Gaza sind laut dem hamaskontrollierten Gesundheitsministerium 174 Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen getötet worden, unter ihnen sollen 47 Kinder gewesen sein. Mehr als 1.200 Menschen wurden verletzt.

Eine israelische Flagge weht seit Freitag über dem österreichischen Kanzleramt am Ballhausplatz in Wien und dem Außenministerium. Diese Solidaritätsadresse an Israels Premier Benjamin Netan­jahu befindet nicht nur die Opposition als eine einseitige Parteinahme im Nahostkonflikt. Auch der Koalitionspartner äußerte in Gestalt von Ewa Ernst-Dziedzic, außenpolitische Sprecherin der Grünen, Unbehagen über das Hissen von Fahnen anderer Staaten, die sich „in einem etwaigen Krieg befinden“. Österreich gefährde damit seine Position als neutraler Verhandlungsort. Prompt sagte Irans Außenminister Mohammed Dschawad Sarif, der wegen der Atomgespräche in Wien weilt, seinen für Samstag geplanten Besuch bei Außenminister Alexander Schallenberg ab. Demonstrationen und eine Mahnwache für Opfer im Gazastreifen wurden untersagt. (rld)

Die israelischen Streitkräfte nehmen nach eigenen Angaben insbesondere die Infrastruktur der militanten Palästinenserorganisationen Hamas und Islamischer Dschihad ins Visier. Unter anderem wurden demnach ein Tunnelsystem, die sogenannte Metro, Waffenfabriken und Lagerstätten der Hamas zerstört. Nach Angaben der Armee wurden weitere Büros und Häuser wichtiger Hamasmitglieder attackiert. Am Samstag hatte insbesondere die Zerstörung eines von internationalen Medien genutzten Gebäudes in Gaza durch israelische Raketen international für Empörung gesorgt. Nach palästinensischen Angaben waren es die bisher schwersten Luftangriffe im Gazastreifen.

Ex­per­t*in­nen machen in der gegenwärtigen Gewalteskalation einen Strategiewechsel aus. Die Hamas versuche, die bewaffnete Auseinandersetzung mit Israel zu nutzen, um sich im innerpalästinensischen Konflikt gegen die rivalisierende Fatah durchzusetzen, so die Brüsseler Politikwissenschaftlerin Leila Seurat zur Nachrichtenagentur AFP. Ziel der Hamas sei es, das Vertrauen in den bereits stark geschwächten Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas von der gemäßigten Fatah-Partei zu untergraben. Zu diesem Zweck versuche die Hamas, sich die Proteste in Ostjerusalem zunutze zu machen. Israel hingegen reagiert hart auf den Beschuss aus Gaza und hat eine drastische Schwächung der Hamas zum Ziel.

International wächst die Angst vor einem erneuten Krieg in Nahost. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) forderte einen Dreistufenplan. „Es braucht nun: 1. – einen Stopp des Raketenterrors, 2. – ein Ende der Gewalt und 3. – die Rückkehr zu Gesprächen zwischen Israelis und Palästinensern und über eine Zweistaatenlösung“, schrieb er am Sonntag auf Twitter.

International wächst die Angst vor einem erneuten Krieg in Nahost

US-Präsident Joe Biden zeigte sich nach dem israelischen Angriff auf das von Medien genutzte Gebäude nach Angaben des Weißen Hauses zwar besorgt über „die Sicherheit von Journalisten“. In einem Telefonat mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Samstag betonte er jedoch erneut Israels Recht auf Selbstverteidigung. Biden sprach am Samstag auch mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und betonte, die Hamas müsse aufhören, Raketen auf israelisches Territorium abzufeuern. Abbas hat allerdings keinen direkten Einfluss auf die Hamas.

Zum dritten Mal binnen einer Woche wollte sich der UN-Sicherheitsrat am Sonntag mit dem Nahostkonflikt beschäftigen. Bei zwei vorherigen Beratungen hatte es keine Einigung auf eine gemeinsame Erklärung gegeben. Dies lag Teilnehmern zufolge an den USA, die eine Verurteilung ihres Verbündeten Israel ablehnten. (mit afp, dpa)