Osman Engin Die Coronachroniken
: Das große Coronarennen

Foto: privat

Osman Engin ist Satiriker in Bremen. Zu hören gibt es seine Kolumnen unter https://wortart.lnk.to/Osman_Corona. Sein Longseller ist der Krimi „Tote essen keinen Döner“ (dtv).

In unserer Straße am Karnickelweg ist der Große Recyclinghof umgesiedelt worden. Man munkelte lange Zeit, dass an seiner Stelle ein menschlicher Recyclinghof entstehen würde. Ein Friedhof. Am Ende wurde es aber nur die Vorstufe davon – ein Altersheim. Mit dem romantischen Titel „Fossilienlager“, „Zombietreff“, „Ü80-Disco“, „Altendepot“, „Abschiebelager“. Nein, nein, diese Vorschläge von witzigen Nachbarn wurden natürlich nicht angenommen.

„Oase des Glücks“ heißt der Laden, wo mir Tag für Tag vor Augen geführt wird, was mich bald erwartet. Seit der Eröffnung habe ich fast keine einzige Nacht mehr richtig geschlafen. Nicht weil ich mir große Sorgen um meine Zukunft mit reichlich Alzheimer mache, sondern um die Zukunft meiner neuen Nachbarn. Ich jage nämlich bis zum Morgengrauen nach geflüchteten alten Leutchen, weil sie nach ihrer Flucht nicht mehr wissen, wie sie wieder zum Altersheim zurückkommen sollen.

Jede Nacht, wenn die alten Herrschaften ausbüxen, wimmelt es bei uns im Karnickelweg von ausgefallenen Nachthemdkreationen in 60er-Jahre-Look, als feierten wir eine Ü80-Pyjama-Party nach der anderen. Täglich grüßt der Alzheimer.

Es wäre zu schön, wenn die Party auch im Karnickelweg bleiben würde. Aber wenn die Senioren kurz die Freiheit einatmen, suchen sie sofort das Weite – ich natürlich hinterher. Was kein so leichtes Unterfangen ist, denn manche Oma mit ihrem Rollator ist wesentlich flinker als ich.

Nacht für Nacht liefere ich nach unerbittlicher Verfolgungsjagd mehrere Geflüchtete wieder in der „Oase des Alzheimers“ ab. Wofür ich von der Heimleiterin Ingrid immer mit einem leckeren Käsekuchen und einer Tasse Kaffee belohnt werde. Aber der leckere Käsekuchen ist nicht der Hauptgrund, wie manche böse Zungen behaupten.

Ich sitze jetzt wieder um Mitternacht auf dem Balkon und halte nach geflüchteten älteren Herrschaften Ausschau.

Es ist sehr windig und regnerisch. Es wäre extrem ungesund bei dem Wetter im Pyjama durch die Gegend zu irren. Und prompt entdecke ich fünf sehr dünne Heimbewohnerinnen, die auf genauso dünnen Beinchen über die finstere, ungemütliche Straße geflattert kommen.

Bei Allah, fünf auf einmal! Ohne Rollatoren. Blitzschnell flitzen sie wie die Hühner in völlig verschiedene Richtungen. Offensichtlich die neue Taktik, um mich abzuschütteln? Nicht mit mir!

Ich renne sofort nach unten und nehme bei strömendem Regen die Verfolgung auf. Zusammen mit den ersten Sonnenstrahlen liefere ich vier der fünf triefnassen Omas in der „Oase des Glücks“ ab. Die fünfte, die Elfriede, habe ich laufen lassen. Sie hat mir versichert, dass sie nur für ein paar Stunden abhaut, um der drohenden Corona-Impfung zu entkommen. Heute Nachmittag kommt sie wieder und spendiert mir einen leckeren Käsekuchen.