„Alle Macht gehört allen Lebewesen“

In zwei Neuerscheinungen suchen Biologen Antworten auf die Bedrohung unserer Lebenswelt durch den Klimawandel: Bernhard Kegel sammelt Fakten, und Stefano Mancuso schreibt eine politisch radikale Pflanzen-Charta

Eisbären sind vermehrt an Land anzutreffen. Hier schaut einer durch ein Bullauge in ein Schiff in Spitzbergen, Norwegen Foto: Arterra/Universal Images/getty images

Von Katharina Granzin

In Zeiten der menschgemachten Erderwärmung ist die gesellschaftliche Bedeutung der Biologie – die bis heute in deutschen Schulen nicht als echte „Naturwissenschaft“ zählt – enorm gestiegen. Es besteht großer Bedarf nicht nur an Leuten, die beobachten und erklären, was passiert und warum, sondern auch an solchen, die qualifizierte Prognosen anstellen können, wie Leben auf einer klimatisch dauerhaft veränderten Erde möglich sein kann.

BiologInnen wären aufgrund ihrer fachlichen Expertise prädestiniert dafür, die Rolle der moralischen Autorität zu übernehmen, die bevorzugt das Recht hat, der Menschheit gründlich ins Gewissen zu reden. Doch diese Rolle ist NaturwissenschaftlerInnen fremd. Gut zu sehen ist das an zwei neuen Büchern von für die Allgemeinheit schreibenden Biologen, die sich dazu auf sehr unterschiedliche Weise verhalten.

Bernhard Kegel, der seine Biologenlaufbahn einst als Insektenforscher begann, verfasst seit vielen Jahren als zuverlässige Erklärinstanz Bücher über alle kleinen und großen Dinge, die da kreuchen und fleuchen. In seinem neuesten Opus „Die Natur der Zukunft“ zieht Kegel eine Art Zwischenbilanz der bisherigen Daten und Erkenntnisse, aus denen sich gewisse Vorhersagen ableiten lassen über das Leben unter den Bedingungen einer sich stetig erwärmenden Erde. Nach Lektüre lässt sich zusammenfassen: Es ist kompliziert. Die Erde hat auch in klimatischer Hinsicht schon einiges hinter sich, und es hat lange vor Existenz des Homo sapiens Wärmezeiten gegeben, mit denen der menschliche Organismus große Schwierigkeiten gehabt hätte.

Aus Tiefenbohrungen konnten ForscherInnen erstaunlich detaillierte Erkenntnisse über das Schicksal längst ausgestorbener Arten gewinnen – und auch über die erstaunliche Resilienz von Arten, die für wärmeres Klima eigentlich nicht gemacht sind. Millionen von Jahren alte Gesteinsschichten lassen teilweise jahrgangsgenaue Aussagen über Flora und Fauna zu.

Kegel berichtet von Untersuchungen im Bighorn Basin im Yellowstone-Nationalpark: Bohrproben zeigten, dass dort während der Wärmeperiode des Paläozän/Eozän-Temperaturmaximums (PETM) vor etwa 55,8 Millionen Jahren die Baum­arten, von denen die Senke zuvor besiedelt war, verschwanden und durch andere Arten ersetzt wurden. Nach dem Ende der extremen Wärmephase, ungefähr 30.000 Jahre später, kehrten die ursprünglichen Bewohner der Senke zurück und dominierten das Gebiet genau wie zuvor.

Bernhard Kegel: „Die Natur der Zukunft“. Dumont Verlag, Köln 2021, 384 S., 24 Euro

Auch in anderem Zusammenhang haben ForscherInnen immer wieder Entdeckungen gemacht, die für viele Arten hoffen lassen. So setzten etwa BiologInnen der Universität Bayreuth Testflächen solcher Arten von Gräsern und Kräutern, wie sie auf einer mitteleuropäischen Naturwiese zu finden sind, gezielten Stresstests aus – extremen Dürre- wie extremen Niederschlagsphasen. Das überraschende Ergebnis: Die gestresste Flora überlebte die Folter insgesamt unbeschadet, d. h. lieferte nach Erholung einen ebenso großen Ertrag an Biomasse wie vorher. Und: Je größer die Artenvielfalt einer Versuchsfläche, desto weniger Pflanzen­material starb während der Stressphase ab.

Auch was die allmählich sterbenden Korallenriffe angeht, gibt es zumindest teilweise, und wohl auch nur sehr langfristig gedacht, Grund zur Hoffnung. Denn die Polypen, die verantwortlich für den Kalkaufbau der Riffe sind und die zu den ältesten Organismen der Erde gehören, überleben bei zu hohen Temperaturen in anderer Form und sind in der Lage, die Riffbildung wieder aufzunehmen, sobald die Wassertemperatur wieder abnimmt.

Grund zur Entwarnung sei das natürlich noch lange nicht, pflegt Bernhard Kegel solchen scheinbar beruhigenden Informationen hinzuzusetzen. Und was die bedrohten Korallenriffe betrifft, geht es immerhin auch um das Schicksal der zahllosen Arten, denen sie als Lebensraum dienen. Generell werden die Vorgänge in den Meeren von den ForscherInnen mit besonderer Besorgnis beobachtet. Einen Großteil der bisherigen Erderwärmung haben nämlich, schreibt Kegel, die Ozeane absorbiert. Daher zeigen sich die Folgen in und an den Meeren auch zuerst. Die Eisbären, die jetzt vermehrt an Land anzutreffen sind, da die Arktis immer mehr an Eis verliert, sind eines der sichtbarsten Symptome der Umwälzungen.

Alle Arten, Pflanzen wie Tiere, tun dasselbe: Wenn ihr bisheriges Habitat zu warm wird, wandern sie polwärts, bergauf oder weiter hinab Richtung Meeresgrund. Andere, wie eben die Eisbären, schlagen die entgegengesetzte Richtung ein. Interessant wird es, wenn es dabei zur Hybridisierung der Arten kommt (aus Eis- und Grizzlybär wird „Cappuccinobär“); weitaus öfter ist es jedoch der Fall, dass eine Art eine andere verdrängt. Das passiert zwangsläufig immer wieder, denn Lebensraum ist nicht endlich.

Dass viele Arten im Zuge der Erderwärmung aussterben werden, ist jetzt schon klar. Und die Erwärmung, auch dieser Punkt kommt in Kegels Darstellung nicht zu kurz, ist nur eine der Folgen des Raubbaus, den der Mensch an der Erde betreibt und der auch ohne Klimawandel bereits verheerend genug ist. „Rund die Hälfte aller Tiere, die mit uns die Erde bewohnten“, zitiert Kegel den Kollegen Matthias Glaubrecht, „haben wir inzwischen ausgerottet.“

Auch was die allmählich sterben-den Korallenriffe angeht, gibt es zumindest teilweise Grund zur Hoffnung

Die Zitatdichte ist sehr groß in diesem Buch, was für die Lauterkeit des Autors spricht, der jede Aussage fachlich absichert und sich eigener Kommentare enthält. Andererseits macht dieses sehr redliche Verfahren die Lektüre mitunter trockener als nötig. In einer populärwissenschaftlichen Publikation darf ruhig etwas mehr schreiberische Subjektivität durchscheinen.

Diese Einsicht hat der italienische Biologe Stefano Mancuso in seinem neuen Buch auf sehr kreative Weise umgesetzt und demonstrativ den Pfad der Objektivität verlassen, um zu zeigen, wie es noch möglich sein kann, das Leben auf der Erde in seiner bisherigen Form zu retten. Das Fazit dieses Buches: Es könnte so einfach sein! Wir müssten nur lernen, zu denken und zu handeln wie die Pflanzen. Allein sie sind es ja, die uns durch das Wunder der Photosynthese diese irdische Existenz überhaupt ermöglichen. Was läge also näher, als die Pflanzen zu befragen, wie wir alle miteinander leben sollen?

Und da Mancuso als international anerkannter Spezialist für Pflanzenneurobiologie wie kaum ein anderer weiß, was Pflanzen denken und fühlen, hat er in ihrem Namen ein Manifest verfasst, das in acht Punkten der gesamten belebten Welt eine Art Verfassung gibt.

Der erste Artikel lautet: „Die Erde ist die gemeinsame Heimat allen Lebens. Alle Macht gehört allen Lebewesen.“ Kapitelweise erläutert der Autor den sachlichen Hintergrund jedes Verfassungsartikels. Dabei geht es sehr oft gar nicht um die Pflanzen selbst, sondern darum, wie alles Leben auf der Erde mit anderem Leben zusammenhängt. Fast alle Artikel der Charta sind von großer politischer Sprengkraft.

Stefano Mancuso: „Die Pflanzen und ihre Rechte“. Aus dem Italienischen von Andreas Thomsen. Klett-Cotta, Stuttgart 2021, 160 S. 18 Euro

Der dritte lautet: „Die Nation der Pflanzen erkennt die tierischen Hierarchien mit ihren Kommandozentren und konzentrierten Funktionen nicht an, sondern unterstützt dezentrale Pflanzendemokratien mit verteilten Funktionen.“ Hier nimmt Mancuso einen anthropologischen Blickwinkel ein und beschreibt, wie wir Menschen fatal dazu tendieren, unsere sozialen und politischen Strukturen genauso hierarchisch zu organisieren, wie unser Körper gebaut ist, was allzu oft zerstörerische Folgen hat.

Hannah Arendt, die sich in ihrem Bericht über den Eichmann-Prozess mit ebensolchen Strukturen beschäftigte, zieht der Autor als Zeugin heran; außerdem den russischen Anarchisten Pjotr Kropotkin, der schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über ein un­hierarchisches, unterstützendes Miteinander von Menschen, Tieren und Pflanzen nachdachte.

Es ist ein gedanklicher Komplex von prinzipiell enormen Ausmaßen, den Mancuso und die Pflanzen in diesem ungemein anregenden Buch anreißen. Für die Zukunft wäre natürlich dringend zu fordern, dass es beim Gedanklichen nicht bleibt. Schade, dass Pflanzen nicht demonstrieren gehen können.