Planwirtschaft in der Pandemie: Gesellschaftliche Nebenwirkungen

Privateigentum und Markt sind keine gute Ideen. Kommt jetzt die Planwirtschaft – oder hat unser Kolumnist einen Impfschaden?

Ein Mann kaut etwas und läuft an einer roten Ochsen-Figur vorbei

Symbol für „gute Ernte“: China ist im Jahr des Ochsen, und führt noch immer einen Fünfjahresplan Foto: Andy Wong/ap

Im Jahr 1895 entwickelte der Münchner Ingenieur Carl von Linde ein Verfahren, um Sauerstoff auf –183 Grad Celsius abzukühlen, bis dieser flüssig wurde. So konnte man ihn in Flaschen füllen und transportieren.

125 Jahre später erlebt die Welt eine Pandemie, und Sauerstoff ist knapp. In indischen Krankenhäusern werden Beatmungsgeräte abgestellt, Menschen ersticken. Die Luft, die wir atmen, wenn wir krank sind, ist eine Ware.

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Diese Ware gehört auch heute oft der Firma Linde, dem Weltmarktführer. Linde sitzt nicht mehr in München, sondern in Irland (die Steuern!) und produziert viel in Indien, aber für den Export. Der Aktienkurs ist im vergangenen Jahr um 40 Prozent gestiegen. Um es mit den Analysten von deraktionaer.de zu sagen: „Linde ist gut durch die Corona-Pandemie gekommen und zeigt sich auch für 2021 optimistisch.“

Aber es gibt auch gute Coronanachrichten: Ich wurde geimpft! Die Ärztin hat mich über die Nebenwirkungen aufgeklärt, Schüttelfrost, Fieber, Thrombosen. Wenn ich Halluzinationen habe, solle ich schnell ins Krankenhaus. Ich spüre noch eine Nebenwirkung, keine persönliche, sondern eine gesellschaftliche: Der Sozialismus ist nah.

Die Vorzüge der Planwirtschaft

Lassen Sie mich ausreden, bevor Sie den Krankenwagen rufen! Es mag am steigendem Fieber liegen, mit dem ich diese Kolumne schreibe, aber während in Indien die Verheerungen des Marktes deutlich werden, zeigen sich im Westen gerade die Vorzüge der Planwirtschaft.

Wer wann geimpft wird, entscheidet kein Markt, sondern Ethikrat und Impfkommission. Die Liste mit den Prioritätsgruppen mag nicht perfekt sein, aber in dieser Woche wurden gezielt Obdachlose in Hamburg geimpft, weil sie dem Virus besonders ausgeliefert sind.

Die Überlegenheit der Planwirtschaft zeigt sich seit über einem Jahr – ob bei der Vorhaltung von Intensivbetten oder der fehlenden Produktion von Masken in Deutschland.

Und nicht nur in der Pandemie kann man diesen Trend beobachten. Man sieht ihn auch bei der Avantgarde des Kapitalismus, den Tech-Giganten. Amazon, Facebook und Google funktionieren längst wie riesige Planwirtschaften. Amazon weiß, was wir suchen, bevor wir es wissen. Ausgeliefert wird entlang einer akribisch geplanten Logistik.

Die Theoretiker des freien Marktes gingen davon aus, dass der Markt dem trägen Planungsstab einer nationalen Ökonomie überlegen ist, weil er aus Angebot und Nachfrage den besten Preis destilliert. Nun zeigen die Internetkonzerne, dass nicht der Markt, sondern der auf Algorithmen basierte Plan die ertragreichste Methode ist.

Gebt die Patente frei!

Wenn sich beim Impfen und im Silicon Valley zeigt, wie gut das funktioniert mit der gesteuerten Verteilung, wieso übertragen wir das nicht auf andere Bereiche? Klingt unrealistisch, aber wer hätte vor einer Woche gedacht, dass sich ausgerechnet die USA dafür einsetzen, die Patente für Impfstoffe auszusetzen, während die in der Planwirtschaft aufgewachsene deutsche Kanzlerin dagegen ist.

Und wenn wir schon dabei sind, könnten wir noch ein paar andere Patente freigeben, nicht nur für geistiges Eigentum, sondern auch für materielles. Das Patent für Wohnungen, zum Beispiel, es nennt sich Grundbuch. Oder für den Sauerstoff von Linde.

Sauerstoff und Impfstoff gehören nicht in Privateigentum. Denn während die deutsche Planwirtschaft in der nächsten Woche die Biergärten öffnet, ersticken in Indien die Kranken. Die Coronanachrichten werden in der Zeitung weiter nach hinten wandern. Aber das Virus wird sich nicht so leicht verdrängen lassen wie andere Krisen. Mutanten brauchen keine Schlauchboote.

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Kersten Augustin leitet das innenpolitische Ressort der taz. Geboren 1988 in Hamburg. Er studierte in Berlin, Jerusalem und Ramallah und wurde an der Deutschen Journalistenschule (DJS) in München ausgebildet. 2015 wurde er Redakteur der taz.am wochenende. 2022 wurde er stellvertretender Ressortleiter der neu gegründeten wochentaz und leitete das Politikteam der Wochenzeitung. In der wochentaz schreibt er die Kolumne „Materie“. Seine Recherchen wurden mit dem Otto-Brenner-Preis, dem Langem Atem und dem Wächterpreis der Tagespresse ausgezeichnet.

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