Festival für zeitgenössische Musik: Der seltsamste Sound des Planeten

Es geht um Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur bei dem Festival, und dazu ist bei „Memories in Music“ auch schlicht sonderbare Musik zu hören.

Blick durch eine Moskitonetz in den Himmel

Bei der Musikrecherche in Australien hilfreich: ein Moskitonetz Foto: Kirsten Reese

Es geht ums Erinnern, und das soll gleich geschehen, womit man hier den Platz an Diedrich Diederichsen übergeben darf. Weil der vor Kurzem in Sachen Walter Smetak geschrieben hat: „Wahrlich, Leute, es ist die seltsamste Musik des Planeten!“

Was neugierig machen sollte auf das am Donnerstag startende Festival „Memories in Music“ der Akademie der Künste (AdK). Auf dem ist nämlich auch Smetak Thema, und wer mit dessen Musik nicht ganz so vertraut ist, mag Diederichsens in der taz erschienenen Text „Seltsames mit magischen Kräften“ – als praktische Erinnerungsübung – nachlesen. Darin schreibt der Poptheoretiker anlässlich neu aufgelegter Alben des schweizerischbrasilianischen Komponisten und Instrumentenerfinders so begeistert wie begeisternd über dessen recht sonderbare Musik, für die man allemal einen erweiterten Neue-Musik-Begriff braucht.

Julia Gerlach, künstlerische Leiterin von „Memories in Music“, spricht ohnehin lieber von „zeitgenössischer Musik“, um damit von dem arg an Partituren klebenden und auf westliche Kunstmusik basierenden Neue-Musik-Begriff wegzukommen, hin zu einer offeneren Perspektive. Sie meint auch, dass man beim Blick über den eigenen Tellerrand schon mal weiter war und diverser aufgestellt, was wiederum wichtig für ihr stets am Dia­lo­gi­schen, an der Auseinandersetzung interessierten „Festival zeitgenössischer Musik“ ist.

Neben erstmals aufgeführten aktuellen Werken stehen auch Arbeiten aus den 1970er und 1980er Jahren auf dem Programm, in denen man bereits raus aus dem engen Korsett wollte und die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen suchte. Musik von Komponisten wie eben Smetak und Thomas Kessler, dessen „Dialoge“ von 1977 geschrieben sind für zwei außereuropäische und zwei europäische Musiker. Und Vocoder, das klangverfremdende Spielzeug der damaligen Zeit, das – wenigstens als eine Nebenspur des musikalischen Erinnerns sollte das hier doch den Hinweis wert sein – wirklich stilprägend etwa beim Maschinengesang von Kraftwerk war.

„Memories in Music“ findet vom 6. bis 9. Mai statt. Das Programm umfasst das digitale Symposium „What Does Freedom Sound Like“, vier Online-Konzerte und Audiowalks. Der im Außenbereich der Berliner Akademie der Künste am Hanseatenweg geplante Parcours mit audiovisuellen Installationen und Live-Auftritten von Mu­si­ke­r*in­nen musste aufgrund der aktuellen Corona-Verordnung abgesagt werden.

Vor Ort am Hanseatenweg können weiterhin projektbezogene Radiokompositionen für individuelle Hör-Spaziergänge über QR-Codes auf das Smartphone geladen werden. Das über 60-seitige deutsch-englische Magazin zum Festival kann ebenfalls vor Ort kostenfrei mitgenommen werden. Programm: ww.adk.de

Weil doch immer was in Musik drinsteckt. Was in ihr aufgehoben sein kann und in welcher Form, ist ja die Frage, die das „Memories“-Festival umtreibt. Es ist Teil des aktuellen AdK-Schwerpunkts „Arbeit am Gedächtnis“, mit dem auch die eigene Institution als „Gedächtnisspeicher“ neu reflektiert werden soll.

Es geht also um Geschichtsschreibung, um Erinnerungskultur und gesellschaftliche Transformation, an der auch zeitgenössische Musik mitwirkt. Da darf man beim Festival auch in entlegenere musikalische Regionen ausschwärmen wie bei dem „Avant Joik“-Programm: Hier geht es mit Katarina Barruk und Maja ­Ratkje um einen traditionellen und experimentellen Umgang mit Joik, dem mit dem Jodeln verwandten Gesang der Samen. Und den kann man hier schon deswegen kennen, weil Joik mit Barruk und Ratkje in den letzten Jahren auch auf anderen Festivals für avancierte Musik wie „Ultraschall“ und „CTM“ zu hören war.

Pandemiebedingt sucht man den Dialog bei „Memories in Music“ nicht in richtigen Livekonzerten mit Publikum, klar, sondern die Konzerte, Performances und Filme gibt es mit der weiterhin einzuhaltenden so­zia­len Distanz im Livestream.

Und dass man sich mit dem Festival und der Sondierung des Erinnerungsspeichers Musik wirklich was vorgenommen hat, mag man schon am Eröffnungskonzert „Leichhardt in Australien“ am Donnerstag ermessen. In gleich zwei Uraufführungen mit Kompositionen von Kirsten Reese und dem in Finnland geborenen australischen Komponisten Erkki Veltheim, die sich mit den Forschungsreisen des brandenburgischen Naturwissenschaftlers Ludwig Leichhardt in Australien im 19. Jahrhundert auseinandersetzen, geht es um Kolonialgeschichte und indigene Musiksprachen.

In der Annäherung an das Thema haben für Kirsten Reese während ihrer Recherche in Australien so auch die notwendigen Moskitonetze (wie im Bild zu sehen) eine musikalische Bedeutung gewonnen. Und Erkki Veltheim gibt in seinem musikalischen Dialog mit Daniel Wilfred einem Songman des Wägilak-Clans aus Ngukurr Raum.

Eine weitere Stimme, die unseren Planeten mit den seltsamsten Musiken ausmacht. Zuhören kann man ihr bei „Memories in Music“.

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