berlin viral
: Leiser Impfneid

Es tut sich was im deutschen Impfzirkus. Man merkt es weniger in den Medien, sondern mehr im echten Leben. Neulich traf ich eine ältere Dame im Hausflur. Es dauerte etwas, bis ich sie erkannte: Es war die Mutter meiner Nachbarin. Länger als ein Jahr war sie nicht mehr hier gewesen. „Mami ist jetzt geimpft“, sagte die Nachbarin später, als sie ein Paket von uns abholte. „Mit Biontech“, fügte sie stolz hinzu.

Meine Freundin aus Stuttgart hatte schon im Februar ihre Mutter in Berlin besucht, kurz nach deren zweiter Impfung. Sie selber sei, so sagte sie mir am Telefon, gerade „von Impfgruppe 3 in Impfgruppe 2“ vorgerückt und hatte ihren Termin genau an dem Tag, als ­AstraZeneca zum ersten Mal gestoppt wurde. Ihre Erleichterung darüber, dass deswegen Biontech in der Spritze war, hörte ich durchs Telefon.

Auch mein Sohn erzählt jetzt von den geimpften Eltern seiner Freunde. Sie arbeiten an Schulen und in Kindergärten oder haben gefährliche Vorerkrankungen.

Ich spüre leisen Impfneid. Ich will auch! Die Stuttgarter Freundin schickt einen Link zum Impfrechner. Danach wäre ich zwischen Juni und September dran. Nachts liege ich wach und denke nach. Damit liege ich voll im Trend, Angela Merkel denkt ja aktuell auch viel nach. Ich könnte nach Moskau fliegen, zu Sputnik V sozusagen. Meine Moskauer Freundin hatte ihre zweite Impfung bereits Mitte Februar: „Die impfen hier alle, die wollen“, schrieb sie mir in einer Mail. Eigentlich hatte ich schon für vergangenen Sommer eine Moskaureise geplant. Dann kam Corona. Die Freundin habe ich länger als ein Jahr nicht mehr gesehen. Mit einem Flug nach Moskau könnte ich jetzt zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Am Gründonnerstag klingelt das Telefon. Es ist ein Freund meines Mannes. Die beiden treffen sich regelmäßig zu irgendwelchen Fahrradtouren mit Picknick. Jetzt hat er einen anderen Vorschlag: „Tegel oder Tempelhof?“, fragt der Freund. AstraZeneca sei ja für Frauen ­gestoppt worden. Da könne man als Ü-60-Mann jetzt quasi außer der Reihe drankommen. Er hat das zufällig im Radio gehört und sofort einen Termin gebucht.

Mein Mann hatte zwei Tage vorher noch verkündet, er würde sich nicht impfen lassen, das sei doch alles so unsicher. Jetzt sieht er nachdenklich aus. Im Netz recherchiere ich die Nummer der Hotline und lege sie auf den Tisch. Karfreitag verbringt mein Mann am Telefon. Die Hotline ist dauerbesetzt. Mittags ruft der Freund an, frisch geimpft, aus Tempelhof.

Samstagmorgen höre ich aufgeregtes Telefonieren: „Nee, nicht gleich heute. Ja, Ostersonntag ist kein Problem.“ Ah, der Impftermin! Sonntagnachmittag, Viertel vor drei. Am Flughafen Tegel.

Mein Mann verbindet das mit einer Radtour. Gegen halb vier telefonieren wir kurz: „Es ist ein Chaos!“ Ewig lange Schlangen, mehrere Stunden Wartezeit in der Kälte. Einige waren per Auto da und viel zu dünn angezogen. Die seien dann wieder abgefahren – ungeimpft. Ich topfe derweil im Garten Tomatensetzlinge um. Ich habe Kaffee und Hefegebäck mit rausgenommen, denn es ist zwar kalt, aber immerhin Ostern. Zwischendurch plaudere ich mit den Nachbarn. „Mein Papa hat heute auch einen Termin in Tegel“, sagt eine. Er sollte sich warm anziehen. Gaby Coldewey