Der Hausbesuch: Eine Orgel in Daressalam

Sie will mit anderen Musik machen, nicht für sie. Mit 23 Jahren wurde Edda Straakholder Kantorin einer Berliner Kirche, 43 Jahre blieb sie.

Edda Straakholder in ihrem Wohnzimmer

Edda Straakholder Foto: Anika Mester

Warum immer nach dem großen Ruhm streben? Warum immer die Beste sein? Edda Straakholder sagt, „manchmal ist es sogar besser, gerade gut genug zu sein, um anderen erst etwas beibringen zu können“.

Draußen: Die Spree schlängelt sich am Nordberliner Wikinger­ufer vorbei. Hier, im Stadtteil Moabit, steht die Erlöserkirche. 42 Jahre war Edda Straakholder in dem Backsteinbau als Kirchenmusikerin tätig. Sie lebt im Turmzimmer der Kirche, in das nachmittags die Sonne scheint.

Drinnen: An den Wänden des schmalen Flurs stehen Regale bis unter die Decke, vollgepackt mit Büchern. In einer Ecke des Wohnzimmers stapeln sich CDs. Die Hälfte davon kennt Edda Straakholder nicht. Manche sind Geschenke, manche hat sie gekauft, um beruflich was damit zu machen und hat es dann doch nicht gemacht. Orchideen blühen auf dem Fensterbrett. In den nächsten Monaten werden sie von einer Nachbarin gegossen. Denn Edda Straakholder fliegt übermorgen nach Tansania. Einen Koffer nimmt sie mit und ein E-Piano.

Afrika: Das erste Mal hat sie Afrika 2012 besucht. Eine Freundin bekam eine Professur an der Musikhochschule in Kapstadt. Gemeinsam bereisten sie Südafrika, meist auf touristischen Pfaden. Dabei wird ihr klar, „dass das nicht das eigentliche Afrika ist“. Das eigentliche Afrika, sagt sie, sei das, wo man anders lebe, anders leben müsse.

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Swahili: Zurück in Berlin sucht sie einen Zugang zu dieser ihr noch unvertrauten Kultur. Sie findet ihn über Swahili, die am weitesten verbreitete Sprache Ostafrikas. Swahili enthält viele arabische Vokabeln, merkt sie, ein Jahr habe sie einmal einer vergangenen Liebe wegen die Sprache studiert. Nach ein paar Jahren Selbststudium lernt sie 2015 Neema aus Tansania kennen, eine Erzieherin, und ahnt nicht, wie sehr diese Frau ihr Leben verändern wird.

Kindheit: Sie kam 1954 in einem Pfarrhaus auf dem Land im südlichen Niedersachsen zur Welt. Der Vater ist Pfarrer, die Mutter hilft in der Gemeinde mit. Damit die Kinder nicht jeden Morgen mit dem Zug zur Schule fahren müssen, zieht die Familie nach Osnabrück, als Edda acht Jahre alt ist. Eine „sperrige Erstgeborene“ sei sie gewesen, sagt Straakholder. Nicht so stromlinienförmig wie ihr Bruder, der wusste, wie man sich anpasst. Glücklich sei ihre Kindheit gewesen. Mit Kirche, Jugendgruppen, Kinderchören.

Glaube: „Als Pfarrerstochter bekam ich den Glauben so mit“, sagt Straakholder. Auf eine Weise, die sie nicht in die Opposition trieb. Dennoch: Mit 21 macht ihr eine Glaubenskrise zu schaffen. „Man erwartete von mir, der jungen Kirchenmusikerin, ganz besonders fromm zu sein. Das war ich nicht.“ Irgendwann sagte sie sich: „Ich mach das jetzt so, wie ich will.“ Seitdem geht es. Der Glaube, den sie in den letzten Jahren in Afrika kennengelernt hat, bringt eine neue Wendung. „Die Menschen in Deutschland beten nur dann, wenn es unbedingt sein muss. In Afrika gehört es zum Alltag. Und wenn dir jemand die ganze Zeit sagt: ‚Ich bete für dich‘, dann fängst du auch irgendwann an.“

Orgel: Als Kind fand sie die Musik in den Gottesdiensten am spannendsten. Sie bittet ihre Eltern, Klavier lernen zu dürfen. Doch weil kein Platz ist „und vielleicht auch kein Geld“, muss sie warten. Ihr Glück ist die neue Schule. Mit 11 Jahren beginnt sie mit Cello. Der Unterricht ist schlecht, doch sie spielt gern im Schulorchester. Mit 13 endlich Klavier, mit 14 Orgel. Zwei Jahre später spielt sie in der Kirche, wenn ihr Vater predigt. „Es war gruselig. Ich habe nur Fehler gemacht und war so verkrampft.“ Während ihr Bruder mit Bratsche zum Musikstar in der Familie avanciert, stürzt sich Straakholder immer mehr auf die Orgel. („Ich wollte nicht in einen Konkurrenzkampf mit ihm treten.“) Ihr Bruder wird Orchestermusiker, sie studiert Kirchenmusik in Herford.

Ein Kreuz und eine Kerze

Kerze und Kreuz nah beieinander Foto: Anika Mester

Lehrer: Auf der Uni in Herford nimmt sich ein Orgellehrer ihrer an. Spielerisch geht es nicht voran, sie verkrampft. Sie bringt sich selbst Fingerübungen bei, die sie bis heute macht. Ein anderer Lehrer sagt, sie solle sich vorstellen, über eine Blumenwiese zu gehen. („Aber das hilft dir nicht, wenn du eine schlechte Technik hast.“) Am schlimmsten ist eine Gesangslehrerin. Die will eine perfekte Sängerin aus ihr machen. Doch Kirchenmusiker wollen keine Stars werden, sondern lernen, ihre Stimme so zu benutzen, dass sie 40 Berufsjahre aushält. „Sie hat mich richtig fertiggemacht. Ich hoffe, dass es heute nicht mehr solche Lehrer gibt.“

Moabit: Mit 23, kurz nach ihrem ersten Examen, bekommt sie die Stelle in Moabit. Trotzdem denkt sie: „Kirchenmusik, das können doch die anderen besser.“ Viel zu tun hat sie am Anfang nicht. Sie studiert nebenbei Musikwissenschaften, macht ein Praktikum an der Deutschen Oper. Aber eine Welt, in der es vor allem um Äußerlichkeiten geht, ist nicht ihre. In Moabit dagegen fühlt sie sich wohl. („Ich fand es sehr angenehm, weil die Leute so normal waren und nicht aufgesetzt“).

Die Kantorin: Sie bleibt 42 Jahre. Anfangs ist sie Teil eines jungen, unerfahrenen Teams, das kein Bein auf den Boden bekommt. Die Kirche ist leer und die wenigen, die zum Gottesdienst kommen, fragen Straakholder, ob sie nicht Gitarre spielen könnte. Erst in den Neunzigern sei es besser geworden. Ein neuer Pfarrer bringt Schwung in die Gemeinde. Die Leute haben wieder Lust auf Gottesdienste und Orgelmusik. Doch nur Orgel spielen? Straakholder gründet einen Kinderchor, rechnet mit 20 Kindern, es kommen 40. „Am Anfang hat es mich unglaublich viel Zeit gekostet, weil ich alles minutiös vorbereitet habe.“ Immer mehr Chöre kommen dazu. Am Ende betreut sie alle Altersgruppen, vom Eltern-Kind-Singen bis zum Jugendchor.

Ruhestand: Die Rente beginnt nach einem großen Abschlusskonzert 2019. Aus der Kantorin ist inzwischen die Vorsitzende des Landeskirchenmusikerverbands von Ost- und Westberlin geworden, dann Kreiskantorin für den gesamten Kirchenkreis Berlin-Stadtmitte, sie ist zur Kirchenmusikdirektorin ernannt worden. Die ersten drei Monate danach rührt sie keine Taste an. „Eigentlich habe ich gedacht, die Kirchenmusik wird mir fehlen. Ich dachte auch mal, ich würde nach der Rente einen Seniorenchor leiten. Zum Glück ist es nicht dazu gekommen.“ So hat sie den Kopf frei für Afrika.

Die Schule: Eines Tages nämlich erzählte ihr ihre Swahili-Lehrerin Neema vom Kindergarten, den sie mit ihrer Schwester in Daressalam gegründet hat. Als Nächstes wollten die beiden Schwestern eine Schule bauen. Doch bisher fehlte das Geld. Da dachte Edda Straakholder an das Erbe ihrer Mutter. Sie wollte immer etwas Großes damit machen. Irgendwann war klar: „Ich investiere in den Aufbau der Schule in Tansania.“

Alte Hand zeigt auf eine Landkarte, Daressalam

Tansania auf der Karte und im Herzen Foto: Anika Mester

Die Ekisha Pre- and Primary School: Edda Straakholder will keine stille Geldgeberin sein. So oft es geht, reist sie nach Tansania und gibt den Kindern Klavierunterricht. Die Schü­le­r*innen rufen sie „Mami-Äda“. Bis November musste sie alle drei Tage einen neuen Batteriesatz für die beiden Keyboards kaufen. Dann kam endlich der Stromanschluss. Sie weiß, dass es Kinder selbstbewusster macht, ein Instrument zu spielen. „Aber“, sagt sie, „Gesangsunterricht mache ich nur, wenn es auch einen afrikanischen Gesangslehrer gibt, und der muss zuerst da sein“.

Mehr als Musik: Fragt man, was Musik ihr bedeutet, spricht sie von Gemeinschaft und Kommunikation. „Ich war mir bewusst, dass ich nicht die große Künstlerin bin. Mich hat es fasziniert, die Leute ranzuziehen und mit ihnen Musik zu machen.“ Und so vermisst sie in Tansania auch nicht das Berliner Konzertleben. Wenn sie Lust hat, gebe es in Daressalam eine Orgel.

Neue Pläne: Langsam ist Straak­holders Erbe aufgebraucht. Für den Schlafsaal, der gebaut werden soll, suchen sie Sponsoren. Ob sie ganz nach Tansania zieht, muss in ihr noch reifen. „Die medizinische Versorgung ist nicht so gut. Auf der anderen Seite: Will ich Intensivmedizin bis zum letzten Atemzug haben?“

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