berliner szenen
: Das lüsterne Auge in der Wand

Einmal vor paar Jahren, in einer Pause knapp vor Redaktionsschluss, suchte ich die Örtlichkeiten auf, die sich gleich neben den Aufzügen befanden. Kabinen mit weiß gestrichenen Holzwänden, plätscherndes Leitungswasser, milchige Spiegel, Licht aus LCD-Lampen, die scheinbare Abwesenheit von Monitoren und Lautsprechern, eine Oase der Ruhe und Entspannung, und da saß ich auf der Schüssel, dachte an nichts Böses und gab mich dem Moment hin, als ein Auge in der Wand auftauchte, ein einzelnes blinzelndes Auge, das gierig durch das Loch in der Wand guckte. Keine Ahnung, welches Geschlecht das Auge hatte und welche Farbe, ob blau, braun, grün oder grau, die Gier allerdings stand fest in das Auge geschrieben, ein lüstern blickendes einzelnes Auge in einer Wand aus Pressspan, und mir blieb nichts anderes, als „Hey!“ zu schreien und mit der flachen Hand gegen das Loch zu schlagen, sodass das Auge verschreckt zurückwich, und dann blieb nur die hastige Flucht aus der Kabine, die Flucht aus geschlossenen Räumen, ich wusch mir nicht einmal die Hände, kehrte nur zusehends, aufgeregt und schockblind, in den Aufnahmeraum zurück, wo mich die Kollegen und Kolleginnen nur träge anschauten wie Kühe auf einer Weide.

Ich hingegen war aufgebracht. Ich zitterte vor Aufregung. Ich überlegte, sofort Meldung zu machen, keine Ahnung, an wen, Bericht zu erstatten, die Polizei zu rufen oder wenigstens hier und jetzt schnell allen zu erzählen, was genau passiert war, aber die Scham war größer oder auch nur die Lächerlichkeit des Ereignisses, die Worte blieben mir im Kopf stecken und wollten nicht raus, sie formten sich nicht, sie formierten sich nicht zu Gefügen, zu Sätzen zusammen, und so sah ich weiter stumpf auf die Hologramme an den anderen Schreibtischen und die in meinem Bildschirm und sagte nichts.

René Hamann