Der Bilder-im-Bild-Maler

In den 1960ern brach der Kieler Peter Nagel mit der Zebra-Gruppe aus der akademischen Malerei aus, wollte entgegen dem Trend realistisch und nicht abstrakt malen. Seit den 80ern prägte er dann zwei Jahrzehnte lang als Professor an der Kieler Kunsthochschule Generationen von Malerinnen und Malern: Zum 80. Geburtstag gratuliert die Kieler Stadtgalerie Nagel mit einer opulenten Ausstellung

Publikum vor einer Projektion auf einer Kinoleinwand – gemalt auf einer Leinwand: Peter Nagels „Kunstbetrachtung II“ von 2019/20 Foto: © VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Von Frank Keil

Peter Nagel hat sich noch einmal gemalt, als jungen Mann. Damals war er in Rom, 27 Jahre alt, hatte zwölf Monate Zeit und musste sich um nichts sorgen. Das Atelier, das ihm zur Verfügung stand, maß zehn mal zehn Meter, die Decken waren hoch. Er malte „Junge mit gestreiftem Tuch“, ein Jünglings-Torso neben einem rot-weiß-blau gestreiftem Handtuch auf rostrotem Grund, eine Komposition, die er im Jahre 2020 noch einmal mit dem Bild „Selbstbildnis im Atelier der Villa Massimo (Rom 1968)“ aufgreift.

Der Maler malt sich dabei, wie er jenes Bild gemalt hat, die Handtuchstreifen akribisch ausmalend, das Haar nicht weiß wie heute, sondern schwarz wie einst, basierend auf einem Schnappschuss damals im Atelier, ein Fotograf hatte vorbeigeschaut. Ein Bild im Bild, so wie er immer Bilder als Bilder gemalt hat und malt, Peter Nagel, einer der führenden Vertreter des „Neuen Realismus“, wenn man es auf einen plakativen Begriff bringen muss oder will.

Dieser Tage wird er 80 Jahre alt, „Peter Nagel“ heißt denn auch schlicht die ihm gewidmete Ausstellung, für die die Kieler Stadtgalerie entsprechend ihre schönen, ebenerdigen Räume bereitgestellt hat, gut gefüllt mit Nagel-Klassikern wie „Spielplatz I“ und „Ballonbaby“, aber eben auch bestückt mit frischen Werken: „Kunstbetrachtung“ von 2019/20 zeigt eine Lichtinstallation als Projektion auf einer Kinoleinwand vor vollbesetzten Reihen, gemalt auf einer Leinwand.

Doch zurück zu den Anfängen. Im April 1944 wurde Peter Nagel in Kiel geboren, wurde dort auch groß, studierte später in Hamburg an der dortigen HfbK Malerei, von 1960 bis 1965. Bald gehörte Nagel er zu den jungen Leuten, die es entschieden leid sind, dass man ihnen mit Verweis auf die Vereinnahmung der realistischen Malerei durch die nationalsozialistische Kunst allein den Weg in die malerische Abstraktion erlauben will.

Sie aber wollen das, was sie erkennbar gegenwärtig umgibt, materialhaft benutzen, wollen es interpretieren und gestalten, wollen nicht zuletzt ausbrechen aus dem Korsett einer allein akademisch grundierten Malerei, ohne selbstverständlich an die Form- und Bildsprachen früherer Zeiten anknüpfen zu wollen – weshalb die Formel vom „Neuen Realismus“ naheliegt. Sie nennen sich als Gruppe nach einem Tier, dem Zebra, wo man schließlich auch immer wieder aufs Neue überlegen kann, ob das Schwarze oder das Weiße die Grundlage seiner Erscheinung wie Existenz ist.

Kunst vom Professor und seinem Studenten: Peter Nagels „Kopfüber II“ und René Schoemakers „Der böhse Paul“ Fotos: © VG Bild-Kunst, Bonn 2021, René Schoemaker

Bemerkenswert ein Satz aus ihrem damaligen Zebra-Manifest von 1965: „Unser Welt-Bild wird heute optisch zu mindestens 90% durch Bildvorstellungen bestimmt, die kein Künstler geschaffen hat: Werbung, Fotografie, Film, Fernsehen haben Sehgewohnheiten entstehen lassen, die von bildenden Künstlern erst zu einem geringen Teil reflektiert worden sind.“ Oder wie es Nagel ausdrückt: „Nach Fotos malen, Fotografie nutzen, das war damals nicht erlaubt.“

Sie aber interessieren sich gerade für diese medialen Bildwelten und ihren Möglichkeiten und so liefern die Zebra-Gruppe und ihre Hauptakteure Dieter Asmus und eben Peter Nagel der mittlerweile erwachten Nachkriegsgesellschaft eine Art bundesdeutsche Version der US-amerikanischen Pop-Art: vielleicht nicht ganz so schrill, nicht ganz so radikal, sondern etwas softer in Formen und Motiven, aber eindrücklich: Nagels „Junge mit Hund“ von 1966, eine Montage aus schreiendem Kinderkopf und dazugestelltem Hundebild, heute ein Klassiker. „Mein Angeberbild“ nennt Nagel es heute liebevoll, wenn er an ihm vorbeigeht.

Im Alltagsmaterial verankert

Neben der sozusagen Leinwandmalerei widmet sich Nagel bald auch der Malerei als praktischer Kunst: Er wird Bühnenbilder auch für das Kieler Opernhaus entwerfen und realisieren; Wandgemälde an und in öffentlichen Gebäuden kommen hinzu wie das Deckengemälde im Bildungszentrum von Mettenhof, einer aus dem Boden zu stampfenden Großsiedlung am damaligen Rande von Kiel, deren Rolle als Problemviertel schon während ihrer Entstehung festgelegt wird.

1985 dann ein großer Schritt: Nagel wird zum Professor für Malerei an der Muthesius-Kunsthochschule in Kiel berufen, er prägt dort für knapp zwanzig Jahre die kommenden Generationen. Von daher war es eine naheliegende, aber noch mehr kluge Idee, der womöglichen Selbstgefälligkeit einer alleinigen Nagel-Retrospektive vorzubeugen, indem man entsprechend Gäste einlädt: Arbeiten von 52 ehemaligen Studierenden sind so dazugekommen, vom Maler und Bildhauer Menno Fahl, der Konzeptkünstlerin Nina Heinzel oder der Dokumentarfilmerin Antje Hubert, erwählt nach einem klaren Kriterium: Haben Sie den Kontakt zu ihm gehalten und er zu ihnen?

Womit man beim Familiären wäre, das Peter Nagels Wirken wie seiner Kunst immer auch anhaftet und sie prägt: sein Spiel mit Motiven, die einmal eingeführt, immer wieder variantenreich auftauchen – das Kind, der Vogel, der Ball, der Tulpenstrauß, der Mann, der fällt. Hat man sich so einmal in der gemalten Welt des Peter Nagels niedergelassen wie auf einem Sofa, ein Glas Wein in der Hand, immer halb voll, nie halb leer, umgeben von angeregt plaudernden Gästen, steht man so schnell nicht wieder auf, weil es gefallen muss, wie sich das Vertraute immer wieder im Neuen und Fremden findet und umgekehrt.

Von daher sei auch unbedingt empfohlen, danach zu schauen, ob und wann in nächster Zeit Führungen mit dem Künstler selbst angeboten werden und – falls terminlich möglich: zugreifen! Denn mit Peter Nagel durch dessen Ausstellung zu schlendern, in Echtzeit zu erleben, wie sich der Maler in den Kunsterzieher und der Kunsterzieher in den Maler hin und her verwandelt, ist nicht nur ein großes Vergnügen, sondern es erzählt auch, wie er vom Anekdotischen einer Bildidee ins Generelle gelangt, das doch immer eine Basis im Material des Alltags hat.

Oder wie es Nagel ausdrückt: „Es gibt viele Wege, um in den alleinigen Besitz der Wahrheit zu gelangen.“

Peter Nagel: bis 30. 5., Stadtgalerie Kiel, Infos: www.kiel.de/de/kultur_freizeit/stadtgalerie