Freiheit oder Sicherheit

Vor Entscheidungen stehen, Verantwortung übernehmen: Das ist von vielen der Protagonisten der zehn Kinder- und Jugendtheaterstücke gefordert, die das Festival „Augenblick mal!“ dieses Jahr ab heute online zeigt

Szene aus „Boys donʼt dance“ von E-Motion/Takao Baba Foto: Eva Berten

Von Katja Kollmann

Ein hellwaches Auge und Beine, die laufen. Von 1991 bis 2009 war der dynamische Augenfüßler das Maskottchen von „Augenblick mal!“. Inzwischen steht der Augenfüßler erdverwurzelt da, eine schöne Metapher für ein Festival, das seit nun dreißig Jahren im Biennale-Rythmus eine Zehner-Auswahl der interessantesten deutschen Kinder- und Jugendtheaterinszenierungen präsentiert.

Im Zuge der politischen Umbrüche 1989/90 geplant, fand die erste Ausgabe des Festivals im April 1991 im wiedervereinigten Berlin statt. Über die Jahre war das Theater an der Parkaue in Berlin-Lichtenberg das Festivalzentrum. Im dreißigsten Jahr seiner Existenz muss sich das Festival den Herausforderungen der Pandemie stellen – und möchte doch so viel wie möglich Festival sein.

Vom 16. bis 21. April kann man alle ausgewählten Inszenierungen in verschiedenen Formaten online erleben, einige davon in der Zoom-Mitmach-Variante. Daneben haben die Festival-Macher ein virtuelles Festival-Zentrum kreiert, damit Begegnung möglich wird.

Die Fünfer-Jury hat ab März 2020 das erste Mal in der Festivalgeschichte Theaterarbeiten im Videoformat zugelassen. So hatten freie TheatermacherInnen die Möglichkeit, ihre Arbeiten einzureichen. Dabei sind Theatergruppen und SolokünstlerInnen, die sonst zu wenige Aufführungstermine hätten, um von den KuratorInnen berücksichtigt zu werden.

Diese Neuerung spiegelt sich in den fünf Kinder- bzw. Jugendtheaterinszenierungen, die eingeladen wurden, wider: Vier Kindertheaterinszenierungen wurden von freien Gruppen entwickelt, beim Jugendtheater sind es drei.

Wie denkt die Inszenierung Gesellschaft? Ist sie deutungsoffen?

Die Jury hat sich bei der Sichtung folgende Fragen gestellt: Wie denkt die Inszenierung Gesellschaft? Folgt sie ihren eigenen Setzungen? Geht sie ein Risiko ein und ist sie deutungsoffen? Im Vorfeld des Festivals konnte ich zwei Kinder- und drei Jugendtheaterproduktionen erleben.

Ästhetisch ist frappierend, mit wie wenig einige Inszenierungen auskommen: eine (fast) leere Bühne, die allein auf den Raum und auf die SchauspielerInnen baut. Bei „Mr. Nobodoy“ vom Jungen Schauspiel/Düsseldorfer Schauspielhaus reicht eine langgestreckte Wand, um auf- und abzugehen. „Boys don‘t dance“ von E-Motion/Takao Baba begnügt sich mit vier beweglichen Aufstellern. In „… ein Stück, dem es scheißegal ist, dass sein Titel vage ist“ von Theater Artemis/Jetse Batelaan markiert nur ein Vorhang den Rand der Bühne.

Inhaltlich ist auffällig, dass fast alle Figuren ihre eigene Existenz befragen. Bei „Boys don‘t dance“ dient der Tanz der Vergewisserung des eigenen Körpers. „… ein Stück, dem es scheißegal ist…“ erschafft ein Labyrinth von Wahrnehmung und behaupteter Realität. Stimmen werden plötzlich vertauscht. Eine Figur ist anwesend und gleichzeitig abwesend, da sie nichts mehr spürt. Eine andere vermehrt sich (durch Pappaufsteller), und die dritte sieht einen Vorhang, wo die anderen einen Drogeriemarkt sehen. „Mr. Nobody“ wechselt die Zeiten, entwirft verschiedene Realitäten, die alle stattfinden hätten können, bis der Journalist ihn fragt: „Was ist nun die richtige Wirklichkeit?“ „IOta.KI“ vom Jungen TheaterBremen/Moks geht so weit, die Existenz der Figuren an sich – als Menschen – infrage zu stellen – im Kontext der KI, der künstlichen Intelligenz. Fast alle ProtagonistInnen kommen in Situationen, in denen sie vor Entscheidungen stehen und Verantwortung übernehmen müssen. Bei „Alarm im Streichelzoo“ von Schauburg-Theater für junges Publikum der Landeshauptstadt München ist das Publikum für drei Hamster mitverantwortlich. Die Premiere fand Anfang März 2020 statt. Drei SchauspielerInnen mit Puppenspielerfahrung bewegten sich damals in Hamster-Ganzkörper-Kostümen durch den Bühnenkäfig und wurden vom Publikum befreit. In der Onlineversion des Festivals bekommt jeder Hamster sein eigenes Zoom-Fenster. Und auch das Zoom-Publikum wird vor die Entscheidung gestellt werden: Was ist für die Hamster wichtiger: Freiheit oder Sicherheit? Eine ewig aktuelle Frage – für jedes Lebewesen. Was macht der Augenfüßler? Er zwinkert und antwortet nicht.

„Augenblick mal!“, 16.–21. April online, www.augenblickmal.de