Der Ehrenbürger von Bern

In der Schweizer Hauptstadt bieten Stadtführer Einblick in das Leben Albert Einsteins, der hier nicht nur sieben Jahre seines Lebens verbrachte, sondern auch die Relativitätstheorie entwickelte

„Mir geht es gut, ich bin ehrwürdiger eidgenössischer Tintenscheißer“

von MICHAEL MAREK

Die leuchtend rote Straßenbahn fährt vorbei an klassizistischen Häuserfassaden, an einem der ältesten Parlamentsgebäude Europas, an mittelalterlichen Brunnen und geschmückten Arkadengängen mit ihren Designerläden und Cafés. Hier, in der Schweizer Hauptstadt, hat Albert Einstein eine naturwissenschaftliche Revolution in Gang gesetzt. Hier verbrachte er nicht nur sieben Jahre seines Lebens, in Bern veröffentlichte er 1905 auch seine bahnbrechenden Arbeiten zur Relativitäts- und Quantentheorie.

Ein Jahrhundert später versuchen die Universität und die Stadtoberen diesen Monolithen der Physik zu würdigen: „Albert Einsteins Wunderjahr in Bern“ – unter diesem Motto wird der wissenschaftlich folgenschwere Aufenthalt zelebriert. Mit Konferenzen und Vorträgen, mit dem Erlebnispark Physik, der Wiedereröffnung eines Museums und mit einer ganz besonderen Attraktion, dem Einstein-Pfad Bern.

„Wie kann man eine Biografie anders als nur über Bücher oder Kurzfilme vermitteln“, hat sich Gerd Grasshoff gefragt, Direktor am Institut für Philosophie in Bern. Zwei Jahre lange habe er recherchiert, sagt der ausgewiesene Einstein-Kenner, um möglichst alle Orte zu identifizieren, wo sich Einstein, seine Freunde und Gesprächspartner aufhielten: „Das sind insgesamt 88 Orte, und wir haben uns darüber gewundert, dass nur ein Gebäude auf diesen Stationen nicht mehr existiert. Der Rest steht noch so wie vor 100 Jahren.“

Eine geografische Biografie ist so entstanden, die Einsteins Leben und Wirken während seiner Berner Zeit beschreibt. Dazu haben Grasshoff und seine Mitarbeiter einen detailreichen Stadtplan entworfen – anschaulich und bewegend zugleich, wenn man zu Fuß, mit dem Fahrrad oder der Straßenbahn den Einstein-Pfad erobern will. Mit Hilfe der Karte lässt sich leicht nachvollziehen, wo der berühmte Physiker wohnte, weshalb er mit seiner Frau sechsmal umzogen ist und weshalb das Arbeiten im Patentamt mit der unerlässlichen Mittagspause Teil der Lebensführung Einsteins wurde.

„Das Bild vom kleinen armen Patentbeamten, der knapp über dem Existenzminimum vegetierte, stimmt nicht“, so Grasshoff. Im Frühjahr 1905 lebte Einstein zusammen mit seiner ersten Frau Mileva und dem einjährigen Söhnchen Hans Albert in einer möblierten Wohnung an der Kramgasse 49, einem Villenviertel, wo unter anderem seine theoretischen Arbeiten entstanden.

Warum Albert Einstein von einem Hochschulhauswart für einen Russen gehalten wurde, was Einstein mit Elvis Presley gemeinsam hat und wie es ihm gelang, im Berner Patentamt die Kosmologie zu revolutionieren, damit beschäftigt sich „Einstein relativ“, ein Rundgang mit Schauspiel. Veranstalter ist „Stattland“, ein nichtkommerzieller Verein. Eine Stadtführerin und eine Schauspielerin, die zum Beispiel in die Rolle von Einsteins erster Ehefrau Mileva Maric schlüpft, entführen die Teilnehmer auf die Spuren des Einstein-Pfades, lesen aus Briefen, zeigen historische Fotos und philosophieren über Einsteins weltliches Kloster in Bern.

Knapp eineinhalb Stunden dauert die Stadtführung. Blauer Himmel begleitet die etwa 20 Teilnehmer auf ihrem Rundgang auf Einsteins Spuren. In der Nähe vom Berner Hauptbahnhof, in der Speichergasse Nummer 6, befindet sich der Eingang zum ehemaligen „Eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum“.

Im Jahr 1902 erhielt hier der junge Diplomphysiker Einstein eine Anstellung als „technischer Angestellter dritter Klasse“, wie es im Behördendeutsch hieß. „Mir geht es gut, ich bin ehrwürdiger eidgenössischer Tintenscheißer mit ordentlichem Gehalt. Daneben reite ich auf meinem alten mathematisch-physikalischen Steckenpferd und fege auf der Geige“, so der Wissenschaftler.

Die Stelle erwies sich als Glücksfall: Sie war gut bezahlt und ließ Einstein hinreichend Zeit für seine theoretische Forschung. Sobald er das geforderte Pensum an Patenten bearbeitet hatte, soll Einstein seine Manuskripte aus der Schublade hervorgezogen und sich mit physikalischen Arbeiten vergnügt haben. Danach hätte er seine Aufsätze in der Pause, auf dem Heimweg oder beim Abendessen mit Freunden diskutiert, erzählt die Stadtführerin.

Heute gehört das schöne Gebäude dem Telekommunikationsriesen Swisscom, aber Einsteins Arbeitszimmer ist erhalten geblieben. Nur hinein kommt man nicht – wegen der vielen Touristen und Schaulustigen.

Ann M. Hentschel und Gerd Grasshoff: „Albert Einstein. Jene glücklichen Berner Jahre“. Mit einem Kartenteil zum Einstein-Pfad. Stämpfli Verlag, Bern 2005, www.einstein05.ch, www.stattland.ch/info@stattland.ch