Sie igeln sich ein

Vier Monate vor Beginn der Olympischen Spiele trifft Japan eine folgenschwere Entscheidung: Ausländische Fans dürfen im Sommer nicht einreisen. Das Verbot ist beispiellos in der Sporthistorie

Abschottung ist Trumpf: Tokioterinnen haben die Spiele nun ganz für sich Foto: dpa

Aus Tokio Felix Lill

Rund eine Million Tickets verlieren ihre Gültigkeit. Einige dürften schon Flüge nach Tokio und Hotelzimmer gebucht haben, auf deren Kosten sie nun wohl sitzen bleiben. Immerhin die Ticketpreise sollen erstattet werden. Denn all die Menschen, die für die Olympischen Spiele von Tokio von irgendwo auf der Welt nach Japan reisen wollen, dürfen dies nun nicht mehr tun. Japanische Grenzbeamte würden sie nicht ins Land lassen.

Am Samstag entschieden sich die fünf zentralen Parteien rund um die größte Sportveranstaltung der Welt – das IOC, das Tokioter Organisationskomitee, die Regierungen von je Japan und Tokio sowie das Internationale Paralympische Komitee – für diesen in der Olympiageschichte einmaligen Schritt: „Tokyo 2020“ soll ohne Zuschauer aus dem Ausland stattfinden. Zu groß sei das Risiko, dass ansonsten das Coronavirus eingeschleppt würde.

Das IOC freut sich nicht über den Beschluss, hat aber sein Verständnis betont. Schon Anfang März hatte die japanische Nachrichtenagentur Kyodo mit Verweis auf interne Quellen berichtet, dass Ticketbesitzer aus dem Ausland nicht ins Land gelassen würden. Nun ist es offiziell. Die Entscheidung ist zu einem großen Teil als innenpolitischer Schritt zu verstehen. Seiko Hashimoto, die Vorsitzende des Tokioter Organisationskomitees, sagte bei ihrer Antrittsrede Mitte Februar, dass sie sich bemühen wolle, wieder in der ganzen japanischen Gesellschaft Zustimmung für die Spiele zu generieren. Denn inmitten der Pandemie, gestiegener Kosten und mehrerer Skandale um mutmaßliche Bestechung und Sexismus ist eine Mehrheit der Menschen in Japan olympiaskeptisch.

Anfang März veröffentlichte zudem die konservative Tageszeitung Yomiuri Shimbun eine Umfrage, nach der 77 Prozent der Menschen in Japan unter den gegebenen Umständen keine Zuschauer aus dem Ausland bei Olympia wollen. Bei dem Versuch, im Inland wieder mehr Vorfreude auf Olympia zu erzeugen, hat sich die Option, auf Besucher aus dem Ausland zu verzichten, also angeboten.

Die Veranstalter hätten freilich für einen Besuch in Japan auch eine Impfung zur Bedingung machen können. Japanische Behörden sind zwar langsam in der Genehmigung von Vakzinen gewesen, aber auch hier begannen Impfungen mit dem Stoff von Pfizer/Biontech im Februar. Der bürokratische Aufwand, von Besuchern die Impfpässe zu kontrollieren, wäre ähnlich groß gewesen wie der, nun eine Million Tickets zu stornieren.

Finanziell hat sich „Tokyo 2020“ längst als Verlustgeschäft herausgestellt. Anfang des Jahres errechnete Katsuhiro Miyamoto, Ökonomieprofessor an der Kansai Universität aus Osaka, die Einnahmeverluste für diverse Szenarien. Würden die Olympischen Sommerspiele ganz ohne Zuschauer laufen, schätzt Miyamoto auf entgangene Einnahmen von 19 Milliarden. Für den nun eingetretenen Fall schätzt Miyamoto die Ausfälle auf gut 12 Milliarden Euro. Das entspricht in etwa dem Budget, das die Organisatoren von „Tokyo 2020“ einst für die gesamten Spiele veranschlagt hatten.

Dabei sind die Verluste durch den Ausschluss des Auslands nicht nur finanziell zu betrachten, sondern auch kulturell. Olympische Spiele werden von den Veranstaltern auch als Katalysator für große Entwicklungen verkauft – nicht anders in Japan. „Tokyo 2020“ sollte dazu dienen, dem Land einen Internationalisierungsschub zu verpassen. So braucht die alternde Bevölkerung ausländische Arbeitskräfte, die Tourismusbranche Besucher aus der ganzen Welt, die ganze Gesellschaft könnte von internationalen Einflüssen profitieren. Auch deshalb lautet ein Motto der Tokioter Spiele „Unity in Diversity“ – Einheit in Vielfalt.

Doch von diesem Motto hat man sich mit Beginn der Pandemie klammheimlich verabschiedet. Man igelt sich ein.