Gewalt in Bremer Pflegeeinrichtungen: „Erschreckende Entwicklung“

Die Zahlen der angezeigten Gewalttaten in Bremer Pflegeeinrichtungen sind im Coronajahr 2020 stark gestiegen. Experten fordern Reformen.

Die Hand einer jungen Person reicht der Hand einer alten Person ein Glas Wasser.

Pflegeeinrichtungen sind seit Jahren überlastet – besser geworden ist es durch Corona nicht Foto: Daniel Karmann/dpa

BREMEN taz | Die Zahl der angezeigten Straftaten in Bremer Pflegeeinrichtungen hat sich 2020 im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. 2019 wurden in Pflegeeinrichtungen insgesamt 29 Straftaten im Bereich von Tötungsdelikten, Sexualdelikten sowie Körperverletzung und Freiheitsberaubung angezeigt. 2020 waren es 75 angezeigte Fälle. Das geht aus der Antwort des Senats auf eine Anfrage der CDU-Fraktion hervor. Zum Hintergrund des Anstiegs lägen allerdings keine Erkenntnisse vor, schreibt der Senat.

Die sozialpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion, Sigrid Grönert, nennt die Entwicklungen „erschreckend“ und fordert daraufhin die Wiederaufnahme von Regelprüfungen in Pflegeeinrichtungen. Seit dem Herbst seien diese grundsätzlich wieder erlaubt und nun lasse die weitgehende Durchimpfung von Be­woh­ne­r*in­nen der Einrichtungen die Kontrollen auch wieder zu, heißt es in einer Pressemitteilung der CDU-Fraktion.

„Die Vorstellung man könne mit Regelkontrollen die Situationen in den Pflegeeinrichtungen klären, ist zu kurz gedacht“, sagt Bernd Schneider, Sprecher von Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne). „Probleme werden wir so nicht lösen können.“ Schneider plädiert dagegen für einen strukturellen Ansatz: „Die Offenheit von Einrichtungen, also dass Besuch kommt und geht, das ist ein Stück weit auch immer eine soziale Kontrolle“, sagt er. „Es ist Transparenz, die dadurch hergestellt wird.“

In Coronazeiten sei das natürlich eingeschränkt. Durch den fehlenden Kontakt mit Angehörigen oder Freun­d*in­nen habe auch die Unzufriedenheit der Be­woh­ne­r*in­nen von Pflegeeinrichtungen gerade am Anfang der Pandemie stark zugenommen. Schneider vermutet, dass sich darum mehr beschwert worden sei. Weil mittlerweile viele Heim­be­woh­ne­r*in­nen geimpft seien, sieht er Möglichkeiten für baldige Besuche: „Ich bin sicher, dass dann die Zahlen im nächsten Jahr nicht mehr so stark steigen werden.“

Stefan Görres, Gesundheitswissenschaftler

„Die Frage ist, ob die Pflegeheime noch die richtige Antwort sind“

Seit 2017 sind Pflegeeinrichtungen in Bremen laut Gesetz dazu verpflichtet, geeignete Maßnahmen zum Schutz der Nut­ze­r*in­nen zu treffen. In Zusammenarbeit mit dem Nut­ze­r*in­nen­bei­rat muss jede Einrichtung ein Gewaltpräventionskonzept erstellen und ei­ne*n Prä­ven­ti­ons­be­auf­trag­te*n ernennen. Ende März gab es hierzu noch einmal eine frische Handreichung der Sozialbehörde, die Einrichtungen dabei unterstützen sollte, „frühzeitig einen Rahmen zur Vermeidung von struktureller und personeller Gewalt zu entwickeln“, wie es von der Behörde heißt.

„Es reicht bestimmt nicht, wenn es nur Beauftragte in den Einrichtungen gibt“, sagt Stefan Görres. Der promovierte Gesundheitswissenschaftler ist Professor an der Uni Bremen und Abteilungsleiter der Abteilung für Interdisziplinäre Alterns- und Pflegeforschung. Er hält die steigenden Zahlen bei den Anzeigen von Gewalttaten für das Symptom eines tiefer gehenden Problems: „Es gibt sehr viele unterschiedliche Gründe, warum es zu Gewalt kommt“, sagt er und nennt Faktoren wie Stress, Überforderung und Unterbesetzung.

Gewalt bedeutet nicht gleich körperliche Gewalt. Auch psychische Gewalt, unangemessene Versorgung mit Essen oder das Verweigern von Hilfe gilt als gewaltvoll.

Besonders gravierend und besonders schwer zu verhindern ist strukturelle Gewalt. „Das ist Gewalt durch die eigene Umgebung“, sagt Stefan Görres. Sind die institutionellen Rahmenbedingungen so geschaffen, dass individuelle Bedürfnisse nicht erfüllt werden, scheint das Problem also tatsächlich tiefer zu liegen.

Laut dem Pflegewissenschaftler müssen daher komplexere Lösungen her: „Die Frage ist, ob die Pflegeheime noch die richtige Antwort sind“, sagt Görres. „Diese großen Einrichtungen mit ihrer starren Organisation sind selbst schon Gewalt.“ Prävention sei immer gut, sagt er. Man müsse aber woanders anfangen, um das Problem langfristiger in den Griff zu bekommen: „Man braucht gut ausgebildetes Personal und davon genug.“ Wenn das gewährleistet sei, dann erwarte er professionelles Verhalten und da habe Gewalt keinen Platz.

Eklatanter Mangel

Auch Heidrun Pundt, Gesundheits- und Krankenpflegerin und Vorstandsmitglied des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe Nordwest, sieht ein strukturelles Probleme bei der Pflege: „Es bedarf dringend einer umfangreichen Reform“, sagt sie. Der Mangel an Fachpflege sei jetzt schon eklatant.

Durch die Coronapandemie sei das nicht besser geworden: „Da ist einfach diese Pandemie auf eine Versorgungssituation getroffen, die schon vorher nicht an den Versorgungsbedürfnissen der Betroffenen orientiert war“, sagt Pundt. Ihre Forderung: Es müsse eine klare Sicht auf die Dinge her. „Für das 21. Jahrhundert ist unser Pflegesystem nicht ausgerichtet.“ Jetzt, in der Coronakrise werde beispielsweise deutlich, dass im Falle einer Pandemie keinerlei Strategien vorlägen. Um in Zukunft gute Pflege gewährleisten zu können fordert sie darum: „Wir müssen hin zu einer Analyse von Bedürfnissen von Langzeitzuversorgenden.“

Stefan Görres wünscht sich mehr Weitblick der Politik. Auch der Wissenschaftler hält eine Reform des Pflege­systems für notwendig, „angefangen bei der Architektur“, wie er sagt. Man müsse sich fragen: „Ist das, was wir da auf die grüne Wiese bauen noch angemessen für die Menschen, die hier den vielleicht letzten Abschnitt ihres Lebens verbringen werden?“

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