Corona-Modellprojekt in Tübingen: Experiment bald zu Ende?

Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet zieht es wegen des „Tübinger Modells“ in die Universitätsstadt. Dort steigen seit dem Wochenende die Infektionszahlen.

Eine Hand mit einem vollen Weizenglas und einem Tagesticket-Armband von Tübingen

'Ne Hülse im Straßencafé: Noch geht das in Tübingen, ein negativer Schnelltest vorausgesetzt Foto: Eibner/imago

TÜBINGEN taz | Es sah fast aus wie in Vor-Corona-Zeiten. Menschen, zwar mit Maske, aber sonst ganz entspannt, flanierten am Wochenende in den engen kopfsteingepflasterten Gässchen von Tübingen. Sie ließen sich zu Kaffee oder Weinschorle in den Straßencafés nieder. Vom Rathausbalkon aus filmte Oberbürgermeister Boris Palmer das Ganze für seinen Facebook-Account. Palmers Botschaft: Was in Tübingen geht, geht auch anderswo.

Der Tübinger Oberbürgermeister und mit ihm die inzwischen bundesweit bekannte Intensivärztin Lisa Federle wollen mit dem „Tübinger Modell“ zweierlei erreichen: dass sich die Menschen regelmäßig testen lassen. Denn nur mit einem aktuellen Negativtest, der an Stationen rund um die Innenstadt gemacht werden kann, dürfen sie flanieren und einkaufen gehen. Außerdem soll gezeigt werden, dass es sich in der Pandemie auch mittelfristig einigermaßen gut leben lässt.

Doch mit der neuen Tübinger Freiheit könnte es bald wieder vorbei sein. „Das Experiment mit offenem Ausgang“ gerate von verschiedenen Seiten unter Druck, sagt Palmer. Zum einen machte die Kanzlerin deutlich, dass sie mitten in einer dritten Welle von Experimenten wenig hält.

Zum anderen wurde das „Tübinger Modell“ am Wochenende ein Opfer seines Erfolgs. Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet zog es nach Tübingen. Sie nahmen teils stundenlanges Warten an den Teststationen in Kauf. Und die Stadt musste nach nächtlichen Partys in der Innenstadt am Freitag ein Alkoholausschankverbot nach 20 Uhr verhängen.

Angst vor dem „Oster-Run“

Die Folgen lassen nicht lange auf sich warten. Am Montag meldete die Stuttgarter Zeitung, dass die Inzidenz in Tübingen, die noch vergangene Woche bei 35 gelegen hatte, seit Sonntag auf 66,7 angestiegen sei. Palmer sieht deshalb noch keinen Grund, sein Experiment abzubrechen. In einem Talk des Tübinger Weltethos-Instituts am Montagabend sagte er: „Die Zahlen gehen hoch, wie bei Städten mit Schließungen auch.“ Das sei kein Grund, ein Modell, das den Menschen ein bisschen mehr Freiheit gebe, zu beenden.

Die Aussagekraft des „Tübinger Modells“ muss sich aber noch erweisen. Von 30.000 Menschen seien bisher immerhin 75 positiv getestet worden, sagt Palmer – Fälle, die sonst unentdeckt geblieben wären. Doch es fehlt an einem konkreten Maßstab, an dem der Erfolg gemessen werden kann.

Denn obwohl die Stadt schon früh auf Tests in Altenheimen zur Kontrolle der Pandemie setzte, bewegte sich ihre Infektionskurve parallel zu der im Landkreis, allerdings auf niedrigerem Niveau. Was darauf hindeuten könnte, dass Tübingen mehr als von den Tests von der Struktur als Universitätsstadt profitiert. Ein Drittel der Tübinger sind Studierende. Sie sind seit über einem Jahr nicht mehr an der Uni, viele von ihnen nicht einmal in der Stadt. Auch andere Universitätsstädte weisen deshalb niedrigere Infektionszahlen auf.

Baden-Württemberg schaut mit gemischten Gefühlen auf das Tübinger Testlabor. Das Land hat den Versuch zwar fürs Erste bis zum 16. April verlängert, lehnt aber die Gesuche anderer Regionen auf derartige Modellprojekte ab. Man wolle erst mal auswerten.

Gleichzeitig hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann strengere Maßnahmen für Landkreise mit Inzidenzen über 100 angekündigt, bis hin zu abendlichen Ausgangssperren. Auch die angekündigte Öffnung aller Schulen, mit Tests und Wechselunterricht nach den Ferien, liegt derzeit wieder auf Eis. Palmer versucht nun, einen „Oster-Run“ auf seine Stadt zu verhindern, und gibt bekannt: Es gebe für die Feiertage schon jetzt keine Test-Tickets mehr.

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