Völkermord in Ruanda: Schwarzbuch Frankreich

Wie tief war Frankreich in den Völkermord an Ruandas Tutsi 1994 verstrickt? Eine Kommission enthüllt das Ausmaß der Kumpanei.

Ruandische Hutu-Freiwillige begleiten französische Spezialkräfte in Ruanda, 27. Juni 1994 Foto: Pascal Guyot / afp

BRÜSSEL/BERLIN taz | Es war die vierte Oktoberwoche des Jahres 1990. Zu Monatsbeginn hatte eine Rebellenarmee, die von Exiltutsi gebildete „Ruandische Patriotische Front“ (RPF), Ruanda von Uganda aus angegriffen; Ruandas Hutu-Diktatur schlug die Rebellen mit Hilfe unter anderem Frankreichs zurück. Der Konflikt schien überwunden, Frankreich bereitete sich auf den Abzug vor.

Dann, am 22. Oktober, warnte Frankreichs Militärattaché in Ruanda, Oberst Galinié, in einem internen Bericht, dass die ruandische Armee Freiwilligenverbände aufstelle, die „Massaker an Tutsi“ begehen könnten. Eine mögliche Folge, fürchtete er, wäre „eine Bitte der Tutsi und der ihnen wohlgesinnten Hutu, dass Frankreich sie schützt“.

Zwei Tage später legte er nach: Ein Waffenstillstand zwischen Ruandas Regierung und den Tutsi-Rebellen wäre für die Regierung inakzeptabel und „würde wahrscheinlich die physische Auslöschung der Tutsi im Land nach sich ziehen, 500.000 bis 700.000 Personen“.

Das war, knapp dreieinhalb Jahre bevor die „physische Auslöschung der Tutsi“ in Ruanda landesweit begann. In der Zwischenzeit rüstete Frankreich die ruandische Hutu-Regierung massiv auf, verteidigte sie gegen die RPF und ermunterte sie zugleich zu Friedensgesprächen, die genau das befürchtete Ergebnis hatten: Eine Machtteilung mit den Tutsi-Rebellen wurde vereinbart, radikale Hutu-Generäle lehnten dies ab, und nachdem Ruandas Präsident Juvénal Habyarimana am 6. April 1994 getötet worden war, begannen sie mit der „Auslöschung“. Und Frankreich schützte die Opfer nicht, sondern die Täter.

Der Bericht Galiniés vom 24. Oktober 1990 ist seit Jahren bekannt: er beweist, dass Frankreich schon früh mit einem Völkermord rechnete. Das Warnschreiben vom 22. Oktober ist offenbar neu entdeckt und befindet sich zusammen mit dem bekannten Schreiben im Untersuchungsbericht einer Historikerkommission, deren Bericht an Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron, „Frankreich, Ruanda und der Völkermord an den Tutsi (1990–1994)“ am Freitagabend veröffentlicht wurde.

„Schwere und erdrückende Verantwortung“

Der 992 Seiten lange Bericht hat es in sich. Er schlussfolgert, Frankreich trage „schwere und erdrückende Verantwortung“ am ruandischen Genozid. Es bestehe eine „politische“ Verantwortung: „die französischen Behörden haben eine fortdauernde Blindheit in ihrer Unterstützung eines rassistischen Regimes bewiesen“. Es gebe „institutionelle“ Verantwortungen: Missachtung von Dienstwegen, parallele Kommunikations- und Befehlsketten bei Präsident Mitterrand und seinen Konsorten, die ihre Macht missbraucht hätten. Und es gebe „intellektuelle“ Verantwortung: Mitterrands Berater hätten gegenüber der Öffentlichkeit die ruandische Realität verzerrt, indem sie von einem ethnischen Konflikt zwischen Hutu und Tutsi sprachen und von einem Bürgerkrieg, als es um einen organisierten Völkermord ging.

Der Vorwurf der „Blindheit“ erscheint angesichts der genauen französischen Kenntnisse über Gewaltakte in Ruanda paradox und wurde in ersten Reaktionen bereits zurückgewiesen. Die Nichtregierungsorganisation „Survie“, traditionell schärfste Kritikerin der französischen Afrikapolitik, spricht in einer Erklärung von einer „oberflächlichen Analyse, die den französischen Staat fälschlicherweise entlastet“.

Am andere Ende des Spektrums weist Mitterrands damaliger Außenminister Hubert Védrine den Vorwurf zurück, man habe Warnungen ignoriert: „Es bedurfte keiner Warnungen, um zu wissen, dass ein gigantisches Risiko bestand“, erklärt er gegenüber AFP: „Von Anfang an war klar, dass es eine fürchterliche Verhärtung geben würde.“

Nicht alle Materialien einsehbar

Macron gab den Historiker­bericht am 24. Mai 2018 in Auftrag, als er sich mit Ruandas Präsidenten Paul Kagame traf – Kagame führte ab 1990 die RPF-Rebellen in Ruanda, die schließlich im Juli 1994 das Völkermordregime stürzten und in Ruanda die Macht übernahmen. Der französische Präsident gründete eine Kommission aus 15 Historikern unter Professor Vincent Duclert. Die französischen Staatsarchive wurden der Kommission weitgehend geöffnet.

Doch die Historiker geben jetzt zu, dass sie in der relativ kurzen Zeit nicht alles restlos erforschen konnten, dass ihnen manche Dokumente, die „die Vorbereitung des Völkermordes dokumentiert hätten“, vorenthalten blieben – und dass eine rein archivarische Forschung eben nichts herausfindet, was nicht in den Archiven ist.

Das hindert die Kommission nicht daran, vor allem den damaligen sozialistischen Präsidenten François Mitterrand und dessen „starke, persönliche und direkte“ Beziehung zu seinem ruandischen Amtskollegen Habyarimana in die Kritik zu nehmen. Mitterrands präsidialer Generalstab stellte die RPF-Angriffe zu Kriegsbeginn 1990 als ugandische Invasion dar und sprach von einer „anglophonen“ Bedrohung.

Alle frühen Erkenntnisse, dass Habyarimanas Regierung in Reaktion auf diese „Invasion“ vor allem die Tutsi im eigenen Land angriff, blieben ebenso folgenlos wie in den Jahren danach die sich häufenden Berichte über Massaker an Tutsi. Derweil baute Frankreich seine militärische Unterstützung Ruandas immer weiter aus.

„In keiner Analyse wird die Bedrohung der Tutsi und der Opposition erwähnt“, merken die Historiker kritisch an, und: „Die Abfolge der Ereignisse hätte den französischen Behöden den systematischen Charakter der Verfolgung der Tutsi klarmachen müssen und sie dazu bringen müssen, die Entscheidung zur Unterstützung des Habyarimana-Regimes zu hinterfragen.“

Die Historiker räumen mit einem Dauerstreitthema auf. Am Abend des 6. April 1994 wurde im Anflug auf Ruandas Haupt­stadt Kigali das Flugzeug abgeschossen, das Habyarimana von einer Friedenskonferenz nach Hause brachte – direkt im Anschluss begann Ruandas Präsidialgarde in Kigali, Hutu-Oppositionelle und Tutsi zu jagen, der Beginn des Völkermordes. Jahrzehntelang beschuldigte Frankreich danach die RPF, das Flugzeug abgeschossen zu haben. Der Bericht enthüllt nun, dass Frankreichs Auslandsgeheimdienst DGSE bereits seit Juli 1994 radikale Hutu-Kräfte, die einen Friedensschluss mit der RPF ablehnten, für die Täter hält.

Die Massaker an Tutsi waren von der ersten Stunde an bekannt und werden in zahlreichen internen Berichten beim Namen genannt. Öffentlich sprach Frankreich aber von „inter­ethnischen Übergriffen“ zwischen Hutu und Tutsi und setzte ausgerechnet auf als Hardliner bekannte Hutu-Generäle, um „die Präsidialgarde zur Vernunft zu bringen“, wie es hieß.

Keine „Komplizität“?

Den Vorwurf einer „Komplizität“ Frankreichs mit den Völkermordtätern weist der Bericht zurück. Die Historiker erklären es für „unmöglich, mit Gewissheit Waffenströme aus Frankreich nach Ruanda nach Beginn des Völkermords an den Tutsi nachzuweisen“, und führen dies auf das „Fehlen signifikanter Archive in den in Frankreich konsultierten Beständen“ zurück.

Bestehende Erkenntnisse dazu ignorieren sie aber, beispielsweise Zeugenaussagen gegenüber einer früheren parlamentarischen Untersuchung, wonach die französische Evakuierungsmission zu Beginn des Völkermordes bei ihrem Abzug ihre Munition an Ruandas Armee übergeben habe.

Frankreichs Armee führte in den ersten Tagen des Massen­mordens eine Evakuierungsaktion für Ausländer durch, da man fürchtete, die eigenen Landsleute könnten Zielscheiben der RPF werden. Gegen die Massaker selbst einzugreifen – diese Möglichkeit schien in Frankreich keinem Verantwortungsträger in den Kopf gekommen zu sein. Vielmehr fürchtete man, zitiert der Bericht hohe französische Generäle aus den Monaten April und Mai 1994, dass jetzt unter ugandischer Führung „ein Tutsiland entsteht, mit angelsächsischer Unterstützung“, und dass „jetzt die Tutsi die Hutu massakrieren werden“. Erst am 23. Juni 1994, als die meisten Tutsi Ruandas schon tot waren, rückte Frankreichs Armee wieder in Ruanda ein, um mit ihrer „Operation Turquoise“ eine „sichere humanitäre Zone“ im Westen Ruandas einzurichten und diese vor der RPF zu schützen.

Eine UN-Resolution segnete diese Intervention als „humanitär“ ab. Intern sah man das in Frankreich anders. Ein diplomatischer Berater des Premierministers ordnete sie in einer „Logik der Rückeroberung Ruandas“ ein. Ein General, so der Bericht, habe vorgeschlagen, „vorzurücken, um (…) in Richtung Kigali vorzustoßen“. Frankreich sah sich offenbar als Retter des in Auflösung begriffenen Hutu-Regimes.

Der Bericht führt zwar aus, dass Frankreichs Regierung am 15. Juli 1994 öffentlich erklärte, man werde für den Völkermord verantwortliche ruandische Regierungsangehörige „internieren, um sie daran zu hindern, ihre Aktivitäten fortzusetzen, und sie auf Anforderung den Vereinten Nationen zu über­geben“. Der Elysée-Palast habe das aber abgeblockt, da ein solcher Schritt nicht im UN-Mandat enthalten war – wobei die USA dies im UN-Sicherheitsrat vorgeschlagen, Frankreich es aber abgebügelt habe.

So fand die aus Kigali geflohene Völkermordregierung bei den Franzosen Schutz – und sicheres Geleit in den benachbarten Kongo durch die französische Fremdenlegion, wie ein Beteiligter in der Legionärszeitschrift Képi blanc enthüllt hat, was den Historikern offenbar entgangen ist. Ein kürzlich freigegebenes Dokument des französischen Generalstabs bestätigt „die Option, die Reste der ruandischen Armee samt ihrer Ausrüstung nach Zaire (heute Kongo) zu verlagern, um von dort aus den Widerstand fortzusetzen“.

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