Vor dem Oster-Lockdown: Ein deutsches Drama

Die Politik verwaltet Missstände, die Bür­ge­r:in­nen schauen mit Faust'schem Fatalismus zu. Die Lösungsseite aber, das Konstruktive, fehlt komplett.

Turisten aus Deutschland bei der Ankunft am Busterminal - hier warten zahlreiche TUI Reisebusse

Teil des Dramas: TUI-Flotte erwartet deutsche Welterober am Flughafen in Mallorca Foto: Enrique Calvo/reuters

Im deutschen Wesen gab es stets dieses Schwanken zwischen Welteroberung und Weltabgewandtheit. Das eine wurde mal mit kriegerischer Energie und mal mit wirtschaftlichem Elan betrieben, das andere war immer eine deutsche Grundierung, seit der Romantik spätestens, aus einer tiefen Verstörung entstanden wiederum über das Wesen dieser Welt; kein Wunder, dass die Dialektik hier geboren wurde.

Zwei Seelen also sind es, hat mal jemand gesagt, und so sind beide, Zaudern wie Hochmut, deutsche Realität. Es ist eine Unsicherheit, die dieses Land durchzieht, kompensiert durch eine herrische Art, die das eigene Scheitern mitreflektiert. Das Autoritäre, das sich in verschiedenen Gestalten zeigt, trägt hier immer auch die Signatur der eigenen Schwäche. Diese deutsche Tiefenunentspanntheit zieht sich bis ins Gesicht von Michael Müller, dem Regierenden Bürgermeister von Berlin.

Und so ist das Schauspiel, das wir gerade erleben, ein sehr deutsches Drama, durchzogen von Faustschem Fatalismus. Die Müdigkeit des Alten prägt die Auftritte und Aktionen, das Stöhnen aus der Studierstube, haben nun ach, ist im ganzen Land zu hören. Aus Unentschlossenheit ist schon lange Phlegma geworden, und weil das Publikum weit weg ist, im Lockdown auf den billigen Plätzen, bleibt für die Politik das Parkett der eigenen Plattitüden. Hilflosigkeit herrscht, und so ziehen die Scharen lieber fort, nach Mallorca.

Dass das wiederum geschehen darf, ist Teil des Dramas, weil diese touristische Form der Welteroberung wiederum ja ein sehr gelerntes Verhalten nach dem verlorenen Krieg wurde. Expansionsstreben also per Wohnwagen statt mit Wehrmachtpanzern, hätte man in den politisierten 70er Jahren vielleicht gesagt, oder die kollektive Club-Med-Flucht vor dem eigenen Schuld-Ich, hätten die therapeutischen 80er Jahre diagnostiziert. Oder doch Hedonismus der demokratischen Art, im Geist der konsumistischen 90er Jahre?

Ratloses Umhertaumeln

Zu bestaunen ist hier jedenfalls die leicht panische Form von Weltaneignung, die von Weltenflucht oft kaum zu unterscheiden ist. Provinz ist schließlich überall, was dann auch den geistigen Diskurs gerade prägt, da unterscheiden sich die TUI-Kolonnen nicht so sehr von den Feuilleton-Kohorten, die sich auch lieber mit ziemlich sinnlosen Schlachten über angebliche Sprachzensur oder Schlimmeres selbst bespaßen, als sich den Zumutungen der nahen Zukunft zu widmen. Oder sogar deren Chancen und Möglichkeiten.

Die Langeweile, die diese Diskussionen unter Gleichgesinnten prägt, die sich als Dissidenten der Meinungsfreiheit gerieren, wäre schon in ruhigeren Zeiten schwer zu ertragen – in diesen Drama-Tagen aber, wo Schüler und Eltern ratlos umhertaumeln, Künstler, Selbständige, Gastronomen ihre Wut kaum noch finanzieren können und die immer neuen Fristen bis zur nächsten MPK mit scheinbar lockerer Hand gesetzt werden, wird sie zum Spiegel dessen, was man leicht als Porträt eines jämmerlichen Landes zeichnen könnte.

Selbstverkleinerung der Handelnden

Auch die Maßnahmen, die nun wieder verkündet wurden, zielen auf den kollektiven Innenraum, Abschottung, Kontrolle, die Einzelnen in ihrer Stube, des Dramas erster Teil – die Faust’sche Verzweiflung wiederum, die ihn hinaus treibt zu Wissenschaft und Welteroberung im Geiste, die technische, die gedankliche, die konstruktive, die Lösungsseite, sie fehlt fast komplett, in den Diskursen der politischen Repräsentanz genauso wie in den sie begleitenden medialen Formen und Foren. Und das ist dann vielleicht das eigentliche Drama.

Denn diese Möglichkeiten gibt es ja, also die im Drama zweiter Teil angelegte naturwissenschaftliche Form der Weltaneignung und -veränderung, in diesem Fall: Impfen, Testen, digitale Übersicht über das Infektionsgeschehen, kleinteilige Lösungen, schlaue Wissenschaftler, Innovation in Bildung, eine andere Form der politischen Kommunikation, Öffnung, Vertrauen, den Blick auf das Morgen gerichtet, eine Sprache der Gemeinsamkeit, eine demokratische Praxis der Verantwortung, sich selbst und den anderen gegenüber.

Stattdessen bleibt es, politisch und kommunikativ, beim Management der Missstände, wie Jeremy Cliffe vom New Statesman beobachtet – eine andauernde Selbstverkleinerung der Handelnden im Angesicht der Herausforderungen, ein Verstecken hinter Vollzug, eine Verarmung, sprachlich und real, und ein unklares Bekenntnis zur eigenen Verantwortung. Die Welt mit ihren Möglichkeiten bleibt verschlossen, die Perspektiven fehlen, der Horizont. Das ist der Frustmoment, die Verdrossenheit, die sich gerade in die Substanz der Gesellschaft frisst.

Problematisch ist diese deutsche Gemengelage, weil sie zu einem Druckstau führt, den Goethe ja auch beschreibt, eine erotische Energie in diesem Fall, die aber auch ganz andere Formen annehmen kann. Die Routinehaftigkeit, mit der dieser Ausnahmezustand in eine Art Automatismus verwandelt wird, ist das Gegenteil dessen, was diesen flirrenden Fragen und der latenten Furcht entspricht. Das Vakuum, das sich hier auftut, wird gesellschaftliche Realität in dem Moment, spätestens, wenn die Krise vorbei ist und der Schaden besichtigt wird.

Das hat auch mit dem Wesen und Wirken des Marktes zu tun, wie im deutschesten aller Dramen vorweggenommen – die wirtschaftlichen Schäden werden wohl erst in den kommenden Jahren in ihrer ganzen Drastik deutlich, verbunden mit den psychischen und weiteren gesellschaftlichen Verwerfungen. Die Herausforderung ist hier einerseits, von staatlicher Institutionenlogik zu wirklicher Teilhabe zu kommen. Eine weitere Herausforderung ist, wie sich das Wesen des Marktes so ändern kann, dass er dem Gemeinwohl dient und nicht nur dem Einzelinteresse.

Bislang allerdings scheint nur eines klar: Der Osterspaziergang fällt aus – es sei denn, es sind vier Kaninchen dabei, die mindestens zweiten Grades miteinander verwandt sind.

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taz-Kolumnist und Chefredakteur von „The New Institute“. Gerade ist sein Buch „Blogdown. Notizen zur Krise“ mit Zeichnungen von Philip Grözinger im Frohmann Verlag erschienen.

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