Aus für Livestream-App: Tschüss, Periscope!

Ende des Monats geht die Livestream-App Periscope vom Netz. Mit dieser hatte unser Autor Tausende Menschen mit zu Protesten genommen. Ein Nachruf.

Presser VertreterInnen stehen vor DemonstratInnen und machen Fotos

Proteste um den G20-Gipfel 2017 in Hamburg Foto: Joerg Boethling/imago

Die Wahrheit ist: Ich werde nicht weinen, aber schnaufen und schnuffen, denn sie war mir stets eine treue Begleiterin und schön war es auch. Wenn eine Ära zu Ende geht, Periscope, dann geht eine Ära zu Ende. Tschüss, App, ich werde dich vermissen. Sicher, es war nicht die erste App ihrer Art und es wird auch nicht die letzte sein und doch war Periscope für den deutschen Live-Journalismus eine kleine Entdeckung von großem Format.

Sie war die Begleiterin, die in jede Tasche passte; mit ihr konnten wir draufhalten, wenn wir draufhalten, schweigen, wenn wir schweigen und davonrennen, wenn wir davonrennen mussten. Bei ihr wurde der Bildschirm schwarz, wenn wir vermöbelt wurden. Und alle konnten sehen, wie es war, auf der Straße zu sein, inmitten dessen, was passierte.

Ende März nun wird die App eingestellt und mit ihr geht etwas Feines verloren: Eine gute Erinnerung und der Weckruf hin zu mehr Authentizität in der Berichterstattung, die die Zuschauerinnen und Zuschauer als das ernst nimmt, was sie sind; sehende Menschen, fähig, sich ihr eigenes Urteil zu bilden von dem, was geschieht.

Periscope, das war für mich persönlich schlicht eine neue Option: meinen Journalismus, meine Stimme und Perspektive mit den Zu­schaue­r*In­nen zu teilen, meine Einordnungen zu geben, Geschichten zu erzählen und dabei doch so nah wie nur denkbar an dem zu bleiben, was wir Journalistinnen und Journalisten sonst manchmal nur „Material“ nennen – die Wirklichkeit, wie wir sie ja zeigen wollen.

Eine neue Möglichkeit der Interaktion

Diese Entdeckung begann für mich bei den Protesten rund um den G20-Gipfel 2017 in Hamburg. Damals stand ich neben einem Wasserwerfer im Einsatz und weil außer Polizisten und Fotografen von diesem Wasserwerfer niemand nass wurde, ließ sich sehr schön zeigen, dass dieses Spektakel noch viel mehr Teil einer Inszenierung war als Teil eines realen Kampfes, denn es gab an diesem eigentlich sehr ruhigen Abend kaum Demonstranten, gegen die der Wasserwerfer sich richtete – aber dafür alarmierende Nachrichtenmeldungen und bald schon martialische Fotos dieses sonst in Wahrheit so irgendwie beiläufigen Wasser­wer­fer­ein­satzes.

Tausende Menschen konnten mit mir damals zuschauen, und was uns dann also verband, war der ruhige Moment, inmitten der Aufregung zu begreifen, was wirklich geschah. Dieses Geschehen unterschied sich von dem, was am nächsten Tag darüber, in seiner Verkürzung, in vielen Zeitungen stand. Zwei Dinge sind an diesem Abend noch passiert. Erstens: Menschen haben, via Periscope, Fragen gestellt. Zweitens: Menschen haben dort Hinweise gegeben und selbst Wissenswertes beigesteuert.

Und so war dies, jedenfalls für mich, der Beginn einer spannenden Interaktion: In der Live-Reportage konnten wir fortan unsere Zu­schaue­r*In­nen zu unzähligen Ereignissen mitnehmen und dabei von einander profitieren: zu den Protesten im Hambacher Forst, zu Angst einflößenden Demonstrationen von Rechtsextremen in Chemnitz oder Köthen oder zu den Demonstrationen der „Querdenken“-Bewegung in Stuttgart und Leipzig. Wir begriffen es als neues, eigenes Genre. Besser, als über all dies lesen zu müssen, was es sein soll, ist, sehen zu können, was es ist.

Und so wurde Periscope für uns nicht nur ein Ort für unsere Reportagen, sondern auch zu einem Ort für eine gewisse Freundlichkeit, für Respekt, für Quatsch, für Partys und Performance und was mich stets am meisten beeindruckte: für gemeinsame Pausen. Einmal, das war am Rande eines Aufmarsches von Nationalsozialisten, die von der Wiederkehr des „Dritten Reichs“ träumten, machte ich auf einer Parkbank eine Pause, live, und 50 Menschen leisteten mir dabei Gesellschaft. Ich fand das außerordentlich nett.

Selbstverständlichkeit, live zu sein

Es gibt diese Art von Irrelevanz, die dann doch wieder nicht egal ist. Etwas Schönes an Periscope ist, dass bunte Herzchen aufsteigen, wenn Leute auf den Bildschirm tippen. Sie können das tun, wenn ihnen gerade was gefällt.

Bald haben viele Reporterinnen und Reporter Periscope für sich entdeckt. Es gehört heute zu den Selbstverständlichkeiten großer Ereignisse, dass über sie auf vielfache Weise live berichtet wird. Manchmal berichten manche sogar live über Dinge, die gar nicht berichtenswert sind.

Mit einer Norwegerin bin ich einmal via Periscope zu einem Fjord gefahren, und manchmal pflege ich in der App meine dort erst entdeckte Vorliebe für arabische Kamelrennen, obwohl ich natürlich weiß, dass man Kamele nicht auspeitschen soll und vor allem schon mal gar nicht durch auf den Kamelen installierte Kamelauspeitschroboter, aber mein Interesse an mir fremden Kulturen ist größer.

Ich liebe es, morgens nach dem Aufstehen Nilpferde anzuschauen in Echtzeit oder Giraffen, wenn meine Lieblingsranger in den schönsten Teilen Afrikas bereits auf Safari sind und dies bei Periscope übertragen. Dadurch rückt die Welt etwas zusammen, wenn wir sie lassen, und Periscope, das ja eigentlich eine lächerliche App mit einem überschaubaren Zweck ist, kann dann, wie eigentlich jeder Ort auf der Welt, zu einem schönen, interessanten Ort werden.

Ende März nun wird die App eingestellt. Ich bin nicht traurig, denn auf Twitter und sonst wo auf der Welt wird es weiter die Möglichkeit geben, schöne, gute und auch überflüssige Live-Reportagen zu verbreiten. Ich fand nur, dass es immer schön mit ­Periscope war, wenn wir das Beste draus machten, und natürlich will ich das auch noch mal feiern. Kommt doch auch.

Martin Kaul, Jahrgang 1981, lebt und arbeitet als Journalist in Berlin für das Investigativteam des Westdeutschen Rundfunks. Von 2009 bis 2019 arbeitete er als Redakteur bei der taz und berichtete in seinen Live-Reportagen via Periscope von zahlreichen Großereignissen wie den G20-Protesten in Hamburg, Neonaziaufmärschen in Sachsen oder den Umweltprotesten im Hambacher Forst. Am 30. März ab 19 Uhr feiert er via Periscope unter @martinkaul eine Abschiedsparty: „Kauli feiert Abschied: Tschüss, Periscope! Eine Live-Gala mit netten Gästen“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.