Das unkontrollierbare Chaos

S-BAHN Die Berliner kaufen trotz langer Wartezeiten und überfüllter Züge weiter Fahrkarten. Dabei müssten sie es damit zurzeit gar nicht so ernst nehmen: Es wird viel weniger kontrolliert, viele Kontrolleure machen Service

„Wir Fahrgäste sollten etwas tun, die Bahn sollte unsere Stimme hören“

UNZUFRIEDENER KUNDE

VON SASCHA CHAIMOWICZ

Als die Waggontüren am Bahnhof Friedrichstraße aufgehen, ergießt sich ein Menschenstrom aus dem Wageninneren auf den Bahnsteig. Zwei Bahnmitarbeiter versuchen, gegen den Strom in die Bahn zu kommen. Eine ältere Dame, die gerade den Zug verlassen hat, beschimpft die Uniformierten: „Jetzt kontrollieren Sie auch noch? Eigentlich müsste man sich was zurückzahlen lassen.“

Was die Herren antworten, hört die Dame nicht mehr. „Wir kontrollieren doch gar nicht“, sagt einer. Ihre Aufgabe ist heute eine andere: Sie informieren Fahrgäste über den Ersatzfahrplan der S-Bahn. Überhaupt ist die Wahrscheinlichket für Berliner, beim Schwarzfahren erwischt zu werden, im Moment geringer als sonst. „Es wird weniger kontrolliert, das steht fest“, sagte ein Bahn-Sprecher der taz.

In diesem Sommer herrscht in Berlin das S-Bahn-Chaos. Schon zum zweiten Mal binnen wenigen Monaten führen Sicherheitsüberprüfungen bei der Bahn zu massiven Zugausfällen. Einmal waren es Probleme mit den Achsen, vor gut zwei Wochen waren es die Bremsen, an denen gravierende Mängel entdeckt wurden. Hunderttausende Pendler in Berlin und Brandenburg müssen sich seitdem mit einem Viertel der S-Bahn-Flotte abfinden.

Die noch fahrenden Züge sind überfüllt. Wer etwa an einem frühen Werktagnachmittag versucht, am Hauptbahnhof in den S-Bahn-Ersatz Regionalbahn zu steigen, kann sich kaum vorstellen, wie ein Kontrolleur im Waggon Fahrscheine überprüft. Um von einem Waggonende zum anderen zu gelangen, müsste er sich von den Händen der Fahrgäste wie ein Rockstar auf einem Popkonzert tragen lassen. Deshalb resignieren die meisten Schaffner. „Ich bin allein hier im Waggon und habe zwei Hände. Den Rest können Sie sich doch selber denken. Ich komme oft selbst fast nicht mehr in den Zug rein“, erklärt ein Bahn-Kontrolleur, der im Waggon sitzt und für den Moment seine Arbeit eingestellt hat.

Trotz des Chaos und der geringeren Kontrollen kaufen die Berliner aber weiter fleißig Fahrkarten. Selbst an Stressbahnhöfen wie Gesundbrunnen stehen Menschen vor den Automaten Schlange. „Die Leute, die für die Bahn arbeiten, müssen ja auch bezahlt werden“, begründet der 25-jährige Matthias seinen Kartenkauf. Außerdem behalte das Land Berlin Geld ein, das es normalerweise an die S-Bahn zahlen würde, sagt er. Damit sei das Unternehmen genug bestraft.

Dabei hätten die Passagiere, die auf dem Bahnsteig stehen, genug Grund, weniger besonnen zu reagieren. Eine Anfang 30-Jährige mit weißem Schal und Schlaghosen erzählt, dass sie für ihren Arbeitsweg nach Zehlendorf 40 Minuten mehr pro Fahrt einberechnen musste. Sie zahlt trotzdem: „Ich nehme ja den Dienst der Bahn in Anspruch, auch wenn der im Moment nicht so toll ist.“ Ayhan Kutluer ist enttäuscht von der Gutmütigkeit der Berliner. Seit 15 Jahren fährt er mit der S-Bahn. Jetzt fordert er mehr Bürgerengagement, während er am Bahnhof Bornholmer Straße auf seine S 85 wartet: „Wir Fahrgäste sollten etwas tun, die Bahn sollte unsere Stimme hören.“ Zum Beispiel Unterschriftenaktionen und gemeinsame Proteste.

Wann die Fahrkartenkontrolleure ihre eigentliche Aufgabe wieder aufnehmen werden, ist noch unklar. Ein Bahn-Sprecher betonte, dass erst hundertprozentig die Sicherheit hergestellt sein müsse, bevor der normale Betrieb weitergehen könne. Das könnte noch ein bisschen länger dauern: Wie die Bahn am Mittwoch Nachmittag bekannt gab, haben Techniker einen weiteren defekten Bremszylinder an einem Zug der modernsten Baureihe 481 entdeckt.