Biologin über Gendertheorie: „Zivilisation ist androzentrisch“

Meike Stoverock untersucht in dem Buch „Female Choice“ das Paarungsverhalten von Tieren und Menschen. Und findet ein Muster gegen männliche Dominanz.

Zwei weiße Tauben turteln

Der Täuberich muss sich um die Möglichkeit der Fortpflanzung bewerben Foto: Reinhard Kurzendörfer/imago

taz: Frau Stoverock, Ihr Buch trägt den Titel „Female Choice“ – ein biologischer Begriff, der sich auf das Paarungssystem vieler Tierarten bezieht. Was hat das mit dem Menschen zu tun?

Meike Stoverock: Es beschreibt ein System, bei dem sich Männchen um Möglichkeiten zur Fortpflanzung bewerben müssen. Um Sex zu bekommen, müssen sie Leistungen erbringen; kämpfen, Geschenke machen, hübsch aussehen. Die Weibchen entscheiden, mit wem sie sich fortpflanzen. Bis zur Sesshaftwerdung, als Menschen noch keine hochkultivierten Wesen waren, galt die female choice auch dort. Erst durch den Aufbau einer nach männlichen Bedürfnissen gestalteten Zivilisation wurde dieses Prinzip unterdrückt.

Sie bezeichnen diese Unterdrückung als das Fundament, auf dem alle heutigen politischen Systeme und Kulturkreise stehen. Worauf stützt sich Ihre These?

Natürlich ist es problematisch, Phänomene aus dem Tierreich eins zu eins auf den Menschen zu übertragen, deshalb bin ich zurückgegangen zu dieser Schwelle zwischen frühen Hominiden und Menschen, die komplexe Gedanken formulieren. Menschen waren einmal Instinktwesen. Ich versuche zu zeigen, dass diese Instinkte nicht aufgehört haben, sondern in diese entstehende sesshafte Zivilisation integriert wurden. Sexualität und Fortpflanzung sind der wichtigste Evolutionsmotor. Ich glaube, dass Menschen da in einer vorkulturellen Zeit keine Ausnahme waren. Da strebten Männer nach Sex, der nicht frei verfügbar war, weil Frauen ihn kontrollierten.

Meike Stoverock, studierte Biologie mit Schwerpunkt Evolutionsökologie und promovierte im Bereich Epidemiologie. Ihr aktuelles Buch, „Female Choice. Vom Anfang und Ende der männlichen Zivilisation“, erschien bei Klett-Cotta, Stuttgart 2021, 352 Seiten, 22 Euro

Es ist nicht unproblematisch, sich auf evolutionsbiologische Unterschiede bei Menschen zu beziehen, Stichwort Eugenik. Sie plädieren für eine wertneutrale Neubesetzung.

Es ist vernünftig, bei biologischer Argumentation genau hinzuschauen. Für mich spielt eine entscheidende Rolle, dass diese gesamten biologischen Erkenntnisse über die Jahrhunderte immer nur von Männern zu ihrem eigenen Nutzen interpretiert wurden. Sie haben ihr Wissen, ihre Erkenntnisse ausgenutzt und missbraucht, wodurch furchtbare Verbrechen möglich wurden. Ich glaube, man sollte Unterschiede zwischen Menschen – nicht nur Männern und Frauen, auch zwischen Alten und Jungen sowie verschiedenen Ethnien benennen können. Wichtig ist: Der biologische Sachverhalt eröffnet Möglichkeiten, die patriarchale Deutung begrenzt oder verhindert diese. Denn sie wertet und weist Menschen einen Platz zu, und das ist nicht zufällig fast immer einer unter dem weißen männlichen Individuum.

Das formulieren Sie deutlich: „Unsere Zivilisation funktioniert nur für eine Sorte Mensch: den Mann.“

Ja, wir leben in einer androzentrischen Zivilisation. Das bedeutet, dass die Welt auf den Mann, seinen Körper, seine Eigenschaften und Prioritäten zugeschnitten ist. Ganz praktisch kann man das in der medizinischen Forschung sehen und in der Gestaltung von Sicherheitsmaßnahmen. All das ist zugeschnitten auf einen Körper, der eher männlichen Parametern entspricht. Das führt regelmäßig dazu, dass solche Maßnahmen für Menschen außerhalb dieser festgelegten Norm nicht passen.

Um dem Androzentrismus etwas entgegenzusetzen, betrachten Sie die Biologie des Menschen und ihre Auswirkungen auf unsere Gesellschaft aus feministischer Sicht. Wie geht das?

Für mich spielt die anhaltende Unterdrückung der Frau eine ganz wesentliche Rolle für die strukturellen Ungerechtigkeiten, die uns heute beschäftigen. Dabei ist die Unterdrückung der weiblichen Sexualität und der damit einhergehenden female choice für mich keine Nebenwirkung des Zivilisationsprozesses, sondern seine bedingende Grundvoraussetzung.

Wenn wir zurück zur female choice gehen, würde also alles gut werden?

Nicht, wenn wir nicht unsere gesellschaftlichen Narrative ändern. Denn ein Muster der female choice ist, dass sich 80 Prozent der Frauen für nur 20 Prozent der Männer entscheiden. Das heißt, eine Mehrzahl an Männern bekommt keinen Sex. Das heißt nicht, dass diese Männer Versager sind. Wenn wir uns die Tierwelt anschauen, dann ist das Männchen, das keine Partnerin findet, der Normalfall. Das Premiummännchen, das sich fortpflanzt, ist die Ausnahme. Daran ist nichts Ungewöhnliches.

Sie schreiben aber, dass männliche Lebewesen, die keinen Zugang zu Sex haben, aggressiv werden.

Genau. Physisch gesehen, wird Testosteron im Körper durch Sex abgebaut, – auch bei Frauen. Testosteron ist ein Leistungshormon, das Muskelwachstum fördert. Allerdings macht es in hohen Mengen aggressiv. Da wird es problematisch: Wenn Testosteron im Körper ansteigt, es aber keine Möglichkeit gibt, es abzubauen, entsteht sexueller Frust. Dass männliche Individuen diesen an Schwächeren auslassen, zieht sich wie ein roter Faden durch die Tier- und Menschenwelt.

Für Männer, die unfreiwillig enthaltsam leben, hat sich der Begriff „Incels“ etabliert. Sie fallen besonders durch Hass und Hetze im Internet auf. Wie gefährlich sind sie für unsere Gesellschaft?

Ich glaube, diese Aggression gehört zum Mannsein dazu. Damit soll aber keineswegs gewaltsames Verhalten gerechtfertigt werden. Aber um diese Gewalt in den Griff zu bekommen, muss man sie als etwas Integrales begreifen – als Teil der menschlichen Natur. Die unfreiwillige sexuelle Enthaltsamkeit führt zu Einsamkeit, zu dem Gefühl, ein Versager zu sein und am Mindestanspruch der männlich geprägten Zivilisation zu scheitern. Es gibt aber Männer, die nach dem Prinzip der female choice nicht erwählt werden und sie müssen wir als Gesellschaft auffangen. Denn selbst wenn sie nicht gewaltsam agieren, wählen Incels häufig rechtskonservative Parteien, die an der patriarchalen Ordnung festhalten und unserer Gesellschaft damit schaden.

Wie könnte man dem entgegenwirken?

Ihnen Hilfe anbieten, zum Beispiel, indem man ihnen sexuelle Erleichterung durch professionelle Sexbegleitung verschafft, wie sie für Menschen mit Beeinträchtigung oder alte Menschen bereits möglich ist und von Krankenkassen mitfinanziert wird.

Sie konzentrieren sich auf die binäre Geschlechterordnung. Ist das nicht unzeitgemäß?

Ich denke auch, dass dieser rein binäre Begriff nicht zeitgemäß ist, aber da es in meinem Buch vor allem um fortpflanzungsbiologische Aspekte geht, habe ich mich auf Frau und Mann konzentriert. Bei der Fortpflanzung kommt es schließlich auf zwei unterschiedliche Geschlechter an, die bestimmte genetische Merkmale aufweisen. Dass sowohl kulturell als auch biologisch die Bandbreite der Geschlechter viel weiter ist, steht für mich außer Frage.

Sie schreiben, dass Menschen, bei denen Chromosom- und Hormonpegel nicht dem gleichen Geschlecht entsprechen, non-binär seien. Beweist das nicht aus biologischer Sicht, dass der Glaube an eine binäre Geschlechterordnung faktisch falsch ist?

Der ist auf jeden Fall falsch. Wenn die Chromosomen auf ein Geschlecht hindeuten, die Hormone aber auf ein anderes – was will man da als biologisches Geschlecht benennen? Bei beidem handelt es sich um physische Faktoren, die deutlich messbar und nachweisbar sind. Das nicht-binäre Geschlecht ist weitaus mehr als nur eine kulturelle Spinnerei, als die es ja oft von Kritikern bezeichnet wird. Wenn wir solche biologischen Erkenntnisse mehr in den Diskurs mit reinbringen, dann kann das nicht-binären und trans Personen helfen, Akzeptanz für ihre Identität zu bekommen.

Erhoffen Sie sich das von Ihrem Buch?

Mein naiver Wunsch ist es, eine Handreichung zu schaffen. Momentan scheint der Geschlechterdiskurs verhärtet. Man redet kaum miteinander. Jeder beansprucht die absolute Wahrheit für sich und alles, was davon abweicht, wird zum Feindbild erklärt. Ich möchte zeigen, wie stark Biologie und Kultur Hand in Hand gehen.

Können Sie das ausführen?

Ich denke, dass Kultur sowohl die Macht hat, biologische Muster zu verstärken, Stichwort toxische Männlichkeit, als auch biologische Muster zu behindern, wie etwa bei der female choice und der Unterdrückung weiblicher Sexualinstinkte. Ich möchte einen Beitrag leisten, dass Menschen, egal welchen Geschlechts, ihre Existenz besser verstehen und es schaffen, einander mehr zu respektieren – als Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen.

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