Und immer waren Fischer draußen auf See

In den 1960er Jahren lösten die Fabrikschiffe der Russen und der Kanadier die kleinen Kutter ab. Ein Einblick in die jüngere Geschichte Neufundlands und das Leben seiner Fischer. Und Empfehlungen zu regionalen Geschichten über das Meer

Das nie endende Schuften und Hungern in einem Fischernest

Die Geschichte Neufundlands ist faszinierend. Seit John Cabot die Felsen im Jahre 1497 entdeckt hatte, füllten Engländer, Franzosen und Portugiesen hier ihre Netze mit „King Cod“, Kabeljau. Manche blieben den Winter über, andere auf Dauer, ab 1700 gesellten sich erste englische und irische Siedler dazu.

The Rooms nannten sie ihre Trockengestelle und -terrassen, The Rooms heißt das Museum in der Hauptstadt St. John’s in Anlehnung daran. Manche Einwohner tun sich noch immer schwer mit der modernen Architektur des Gebäudes, die den Salt Boxes, den kleinen Häusern der kleinen Leute von einst, nachempfunden wurde: The Rooms sei die Schachtel, in der die danebenliegende Kathedrale geliefert wurde, lästern sie.

Auf drei Etagen erzählen Ausstellungen das Auf und Ab der vergangenen Jahrhunderte. 1836 lebten auf der Insel 75.000 Menschen in 400 Dörfern, die Hälfte von ihnen britischen Ursprungs. Pulverhörner, Beerenkämme, Seehundstiefel, Flechtkörbe, Holzäxte und Langleinen berichten von einer Existenz, in der es alle Ressourcen der Natur zu nutzen galt, um zu überleben.

Den Ureinwohnern, Mikmaq, Beothuk und Innu etwa, brachten die Neusiedler Pulver und Blei, die die Jagd erleichterten, aber auch die Spanische Grippe, an der Tausende starben. Während der Periode des Resettlement, der Umsiedlung von 1954 bis 1975, wurden 300 winzige Fischerdörfer geschlossen, 28.000 Menschen fanden anderswo ein neues Zuhause. Man sieht Schneemobile, Bootsmotoren, Fotos von Kneipen im alten St. John’s, man lässt sich von Angehörigen verschiedener Ethnien erzählen, was ihnen Identität bedeutet, man erfährt, wie Toutons, Brötchen aus der Pfanne, zubereitet werden, und kann sich an der Fidel und an klappernden Löffeln versuchen.

Und immer waren Fischer draußen auf See. In den 1960er Jahren lösten die Fabrikschiffe der Russen und der Kanadier selbst die kleineren Kutter ab und holten Tonne um Tonne an Fisch aus der Tiefe. Dann war die See leer, abgeräumt waren die Grand Banks, die besten Fischgründe der Welt. Im Jahr 1992 zog die kanadische Regierung viel zu spät die Notbremse und erließ ein absolutes Fangverbot für Kabeljau. 30.000 Fischer, Packerinnen, Bootsbauer und Werftarbeiter verloren über Nacht ihre Arbeit. 47.000 Menschen verließen während der kommenden fünf Jahre the rock, den Fels, ganze Landstriche verödeten.

Ab 1997 herrschte dank der neu eröffneten Ölplattformen eine Zeit wirtschaftlicher Euphorie. Heute ist die Ölförderung im Atlantik nicht mehr konkurrenzfähig – wieder einmal heißt es, den Gürtel enger zu schnallen. Alle Kinder wachsen schon früh mit Überlegungen auf, wohin aufs Festland sie nach Abschluss der Schule gehen werden. Mit Mitte dreißig, nach Gründung einer Familie, kehren viele wieder zurück. Die Generation zwischen zwanzig und fünfunddreißig aber fehlt auf der Insel.

Dieses historische Auf und Ab ruft geradezu danach, auch künstlerisch in Form gegossen zu werden. So schildert etwa Bernice Morgan aus St. John’s in ihren Romanen „Die Farben des Meeres“ und „Am Ende des Meeres“ eindringlich das nie endende Schuften, Hungern und Weitermachen in einem winzigen Fischernest von seinen Anfängen im 19. Jahrhundert bis zum Kabeljaumoratorium. E. Annie Proulx erzählt in „Die Schiffsmeldungen“ die Geschichte des Versagers Quoyle, der im Land seiner Vorfahren bei liebenswerten Querköpfen eine neue Heimat findet: „900 Kilometer dicht eingenebelte Küste. Boote, die sich durch Meerengen zwischen eisverkrusteten Klippen fädelten. Tundra und Ödland, ein Landstrich voll verkümmerter Fichten, welche die Menschen fällten und wegzerrten.“

Wayne Johnston nimmt sich das Leben des eigensinnigen Joey Smallwood vor. Er reiste als kleiner Gewerkschaftssekretär Tausende von Kilometern durch das Land, um ein paar Fischer zu organisieren, setzte später den Beitritt der Provinz zu Kanada durch und wurde ihr erster Premierminister. Und was die Musik angeht, spiegeln die Songs der Liedermacher Jim Payne oder Stan Rogers immer noch am eindrücklichsten die lähmende Depression in den Jahren nach Ausrufung des Kabeljaumoratoriums: „Empty nets“ – leere Netze. Franz Lerchenmüller