Geschichte der 800-Meter-Läuferinnen: Unter Dauerverdacht

800-Meter-Spezialistinnen wurden stets wegen ihrer Leistungen diffamiert und ausgegrenzt. Mit ihren Erfolgen kam die Frage nach ihrem Geschlecht auf.

800-Meter-Läuferinnen nach dem Zieleinlauf

Stets beargwöhnt: Jarmila Kratochvilová bei ihrem WM-Sieg 1983 in Helsinki Foto: PCN Photography/imago

Weltrekord und Olympiasieg. Der 2. August 1928 war ein großer Tag für Lina Radke. Bei den Sommerspielen in Amsterdam hatte die 24-Jährige aus Baden-Baden den 800-Meter-Lauf in 2:16,8 Minuten gewonnen. Nur die Herren des Sports mochten nicht jubeln. „Der Anblick lockte nicht zur Wiederholung“, schrieb der Sportfunktionär Carl Diem, und der Begründer der Olympischen Spiele, der französische Baron Pierre de Coubertin, glaubte eine „unzumutbare Überanstrengung der Frauen“ gesehen zu haben.

Es war zwar niemand kollabiert, aber allein dass die Läuferinnen sich angestrengt hatten, war verdächtig. Frauenleichtathletik hatte 1928 ihre olympische Premiere erlebt. Doch der 800-Meter-Lauf der Frauen wurde sofort wieder gestrichen. Erst 1960 in Rom war er wieder dabei. Wie in kaum einer anderen Disziplin häufen sich hier Angriffe auf „überforderte“ oder „zu männliche“ Frauen. Es ist eine Geschichte der Ausgrenzung und Diffamierung.

1934 war Zdena Koubková aus Tschechien in 2:12,4 Minuten Weltrekord über 800 Meter gelaufen, aber bei einem beim IOC ungeliebten Wettbewerb, den Frauen-Weltspielen in London. Zwei Jahre später unterzog sie sich einer Geschlechtsumwandlung, aus ihr wurde Zdeněk Koubek. Ihre Rekorde wurden nach der OP annulliert. In der Männerwelt des Sports sorgten solche Meldungen für Furore. Der Amerikaner Avery Brundage, 1936 frisch gewähltes Mitglied des IOC, später wurde er Präsident, forderte, dass sich alle Sportlerinnen auf „geschlechtliche Zweideutigkeiten“ untersuchen lassen müssen. Ab 1948 verlangte das IOC tatsächlich von allen Frauen ein medizinisches Zertifikat.

In den Fünfzigern kam der Kalte Krieg oder, wie es der Spiegel 1967 formulierte, es „drängten immer mehr Athletinnen in das sowjetische Frauen-Kollektiv, die sich nicht unter die Gemeinschaftsdusche trauten, zu deren Reiseausrüstung ein Rasierapparat gehörte“. Gerade die jüdischen Schwestern Irina und Tamara Press gerieten in den Fokus. Tamara gewann unter anderem 1964 den leichtathletischen Fünfkampf, zu dem auch der 800-Meter-Lauf gehörte. „Press Brothers“ war eine der eher milderen Schmähungen; der Spiegel erfreute sich 1969 sogar an Berichten über eine Vergewaltigung von Tamara Press, als Konkurrentinnen „gewaltsam beim Striptease“ nachgeholfen haben sollen.

Gerüchte auf Wikipedia

Massiv angefeindet wurde auch Sin Kim-Dan aus Nordkorea. Ihre 800-Meter-Weltrekorde von 1961, 1963 und 1964 wurden allesamt nicht anerkannt, weil Nordkorea nicht Mitglied des Weltverbandes IAAF war. Im Jahr 1963 war sie zwar mit 1:59,1 Minuten die erste Frau, die die 800 Meter unter zwei Minuten lief, aber das gelang ihr bei Ganefo, den „Games of the Newly Emerging Forces“, einer Konkurrenzveranstaltung zu den Olympischen Spielen.

Bis heute wird kolportiert, etwa bei Wikipedia, dass ihr „Geschlechtsstatus umstritten“ gewesen sei. Dabei fußt diese Einschätzung nur auf Gerüchten; beispielsweise hatte ein Mann aus Südkorea behauptet, Sin sei sein Sohn. Und dass sich Sin 1966 zurückzog, als Vor-Ort-Geschlechtstests durchgeführt wurden, gilt beinah als Beweis. Dass Sin später zwei Kinder bekam oder dass japanische Ärzte nach einer Untersuchung sie als „100-prozentige Frau“ beschrieben, hat die Gerüchte nicht erschüttert.

Der neue Geschlechtstest sah so aus: Bei der Leichtathletik-EM 1966 in Budapest kam es zu einer visuellen Überprüfung der Sportlerinnen, bei den Commonwealth Games 1966 in Jamaika fanden manuelle Untersuchungen am Körper statt, und bei den Panamerikanischen Spielen 1967 in Kanada wurde eine „Nacktparade“ organisiert. Die US-Kugelstoßerin Maren Sidler berichtete: „Man musste reingehen, sein Hemd hochziehen und die Hosen runterlassen.“ Drei Ärzte glotzten und entschieden dann.

Neben Caster Semenya dürfte Jarmila Kratochvilová die berühmteste der umstrittenen 800-Meter-Läuferinnen sein. Die Tschechin hält mit 1:53,28 Minuten seit 1983 den Weltrekord. Meist heißt es, sie dope und man sehe virilisierende Effekte. Doch weder Doping- noch Geschlechtstest waren jemals positiv.

Verdächtig war auch Maria Mutola aus Mozambique, 800-Meter-Olympiasiegerin in Sydney 2000. Ihr, die später Caster Semenya als Trainerin betreute, wurde oft nachgesagt, eigentlich ein Mann zu sein. Die Frankfurter Allgemeine titelte einmal: „Mann-o-Mann, was für eine Frau!“, und auch die taz fragte mit Blick auf Mutola und Kratochvilová: „Sind da tatsächlich Frauen am Start?“

Angebliche Fürsorge

Santhi Soundarajan aus Indien wurde 2006 bei den Asienspielen Zweite über 800 Meter. Bei ihr stellte sich heraus, dass sie einen männlichen Chromosomensatz hat; in der Darstellung der Bild hieß das: „Dieser Inder holte Silber bei den Frauen.“ Sie verfiel in Depres­sio­nen und unternahm einen Suizidversuch.

Ähnlich wie der Fall von Caster Semenya, nur nicht ganz so prominent, liegt der von Annet Negasa, 800-Meter-Läuferin aus Uganda und 2010 Dritte bei der Junioren-Weltmeisterschaft. Bei ihr wurden genauso erhöhte Testosteronwerte festgestellt wie bei Francine Niyonsaba aus Burundi und bei Margaret Wambui aus Kenia, die beide 2016 mit Caster Semenya zusammen in London auf dem olympischen Treppchen standen. Forderungen wurden laut, man müsse „durchschnittliche“ oder „normale“ Frauen schützen.

Die angebliche Fürsorglichkeit war es auch, die den 800-Meter-Lauf 1928 in Verruf kommen ließ. Zustande gekommen war seine olympische Premiere auf Druck des Frauensportverbandes FSFI. Ab 1927 waren in Deutschland 800-Meter-Läufe für Frauen erlaubt, sechs Jahre lang, 1933- wurden sie verboten. 1942 und auch 1949 wurde noch einmal bekräftigt: nur 100- und 200-Meter-Läufe für Frauen.

1971 lief Hildegard Falck aus Wolfsburg in 1:58,5 Minuten Weltrekord – die erste offiziell anerkannte Frau, die schneller als zwei Minuten lief. Der Spiegel lobte, das bewirke mehr „als früher die Auftritte der Suffragetten“.

Die Olympiasiegerin Lina Radke aber wurde vergessen. Als 1983 der Vizepräsident des Deutschen Leichtathletikverbandes ihr zum 80. Geburtstag gratulieren wollte, erfuhr er von einem Nachbarn: „Die Frau Radke ist vor einem halben Jahr verstorben.“

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