Nie wieder Erde!

Bis vor Kurzem war Daniel Meyer-Dinkgräfe Drama-Professor an der University of Lincoln. In Bremerhaven leitet er das winzige Piccolo-Theater mit Mut zum Niveau. Am Samstag feiert dort die deutschsprachige Erstaufführung von „SpaceXPat“ Premiere, ein Stück für Zoom mit einem frustrierten Astronauten als Protagonisten, der an Rückkehr nicht mehr denken mag

Dramatischer Dialog via Bildschirm: Das Gespräch aus dem All macht Zoom im Stück „SpaceXPat“ zur Bühne, auch wenn die Inszenierung weniger auf Schaulust setzt Foto: Nasa/Imago

Von Jens Fischer

Räumliche Mobilität ist in Deutschland derzeit unerwünscht, die Einreise aus vielen Ländern verboten, leibhaftige Begegnungen von Theatermachern eine schöne Utopie. Gnadenlos Lockdown-konsequent verlagerte daher auch das Bremerhavener „Piccolo Teatro Haventheater“ seine künstlerische Arbeit aus dem Kneipenviertel „Alte Bürger“ ins Internet.

Leiter Daniel Meyer-Dinkgräfe sprach einen selbst geschriebenen und einen von der Tochter verfassten Roman als Hörbücher ein, die über den Lokalfunk Radio-Weser-TV ausgestrahlt wurden. Zudem bekam er vom Kulturamt 3.000 Euro für zehn Stunden Hörspiele überwiesen, sofort wurden „Literatur“ von Arthur Schnitzler sowie vier Texte seiner Töchter Lilwen und Myfanwy aufgenommen.

Anschließend bewarb sich der Theaterleiter erfolgreich um ein Stipendium des Bremer Kultursenators für eine internationale Produktion. Das explizit für Online-Konferenzplattformen geschriebene Stück „SpaceXPat“ von Vince LiCatan hat Meyer-Dinkgräfe flugs übersetzt und bringt die deutschsprachige Erstaufführung am 27. Februar live via Zoom heraus – geprobt wird eben dort, der Regisseur sitzt im ostenglischen Lincoln, das Darstellerehepaar Andreas und Vania Brendel in Bremen, ihr ehemaliger Schauspielstudiumkollege Christian Bojidar Müller in Berlin und Techniker Chris Corner ist von London aus dabei.

„Ich habe viel überlegt, wie unser Theater sichtbar bleiben kann in der Pandemie, Streamings der Inszenierungen kommen nicht infrage, das ist rechtlich zu kompliziert und zu teuer für ein kleines Haus wie das unsere“, sagt Meyer-Dinkgräfe. Daher fragte er den ehemaligen Kollegen Andy Jordan, Regisseur und Universitätsdozent für bildende und darstellende Kunst, ob er seine für das „Space-UK online“-Festival 2020 kreierte „SpaceXPat“-Inszenierung für Bremerhaven wiederholen könnte. Jordan sagte ja. Und legte los.

Ästhetisch wird die deutsche Version des Video-Telefonierstücks mit der englischen Produktion identisch sein, die inzwischen bei Youtube hochgeladen wurde. Mit der Beschränkung auf eine Kamerapers­pektive und strenges Split-Screen-Design sowie dem Verzicht auf Schnitte, unterlegte Musik und digitalen Animationsschnickschnack soll das Video den Blick erneut auf Text und Schauspieler konzentrieren. Allerdings werden jetzt andere Gesichter zu sehen sein.

Um die Diversität der Gesellschaft zu zeigen, setzte Jordan 2020 auf einen breitmaulig weißen US-Macker, eine anglo-asiatische Frau und einen Afroamerikaner. „Ich habe hier noch nicht die Kontakte, um ein entsprechendes Ensemble zusammenstellen zu können“, bedauert Meyer-Dinkgräfe. Vorgeschrieben sei die Typologie vom Autor aber auch nicht.

Der ist Biochemie-Professor an der Louisana State University in den USA und interessiert sich als Dramatiker für akkurate theatralische Darstellungen der Wissenschaft, sowohl ihres Denkens und ihrer Arbeitsmethoden sowie der Analyse ihrer Ergebnisse.

Mit „SpaceXPat“ thematisiert er vor allem die Folgenlosigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse. Im Zentrum steht der desillusionierte Astronaut Pat, der von einer internationalen Raumstation per Videoschaltung mit seiner frisch geschiedenen Frau kommuniziert und ihr erklärt, nicht auf die Erde zurückkehren zu wollen. Warum?

„Die Menschheit ist am Ende, und ich bin mit ihr am Ende“, erklärt Pat. Er festigt seine Sicht der Dinge im Laufe des Gesprächs und sagt: „Ich meine, wirklich, sieh dir doch nur die Arktis an! Die machen doch nichts anderes, als Heftpflaster aufzukleben und sich dann auf den Rücken zu klopfen. Sieh dir die Krawalle und Protestkundgebungen an, die Morde. Sieh dir die Epidemien an, die Überdosen.“ Pat wählt Ohnmacht als Reaktion auf die nicht enden wollende Serie von Die-Welt-ist-schlecht-Nachrichten.

„Die Menschen sind so Anti-Wissenschaft geworden, dass wir nicht einmal eine Pandemie in den Griff bekommen, die im Grunde ein normaler Schnupfen ist, der tödlich wurde. Proteste, Unruhen und die Militärmacht, diese zu unterdrücken, sind einfach ein sich selbst verewigender Zyklus. Die Wirtschaft gehört einer soziopathischen Oli­garchie“, so Pat. „Ich kann nicht zu einem Planeten zurückkehren, der an Gier, Dummheit und willentlicher Zerstörung stirbt.“

Seine Ex findet die Entscheidung „unglaublich selbstsüchtig“. Auch angesichts der gemeinsamen Kinder. Im anschließenden Gespräch mit Astronauten-Kumpel Mike erfährt Pat, dass die Menschheit wieder im Lockdown sei. „Sie sagen, es wird ein paar Wochen dauern. Diesmal wegen irgendeiner Art von Schweinepest. Sie haben vorhergesagt, dass es noch schlimmer sein könnte als mit dem Coronavirus.“ Pat bleibt allein auf dem Bildschirm zurück und singt: „This is Major Tom to Ground Control … am I sitting in a tin can / Far above the world / Planet Earth is blue / And there‘s nothing I can do“ (David Bowie).

„Ich habe viel überlegt, wie unser Theater sichtbar bleiben kann in der Pandemie, Streamings der Inszenierungen kommen nicht infrage, das ist rechtlich zu kompliziert und zu teuer für ein kleines Haus wie das unsere“

Daniel Meyer-Dinkgräfe, Leiter des Piccolo-Theaters

Das Stück ist eine apokalyptische Vision der nahen Zukunft, vibrierend vor Angst, die globalen Krisen könnten ausufern. Pats Beschreibung wird von niemandem angezweifelt, seine Schlussfolgerung aber problematisiert. Die moralische Beurteilung überlässt das Stück den Zuschauenden. Denn eine Alternative dazu, mit Beleidigte-Leberwurst-Fanatismus in die universelle Einsamkeit einzugehen, könnten ja anständiges Zusammenhalten Gleichgesinnter als sanfte Subversion sein, natürlich ist auch wohlorganisierter Widerstand oder revoltierender Aufbruch möglich. „Für mich ist die Produktion auf alle Fälle ein Schritt in die Zukunft meines Theaters“, sagt Meyer-Dinkgräfe. Denn er möchte weg vom Image der reinen Boulevardbühne.

2019 verließ Meyer-Dinkgräfe seinen Lehrstuhl für Theaterwissenschaft an der University of Lincoln, wollte der dramatischen Theorie endlich Praxis folgen lassen und zog an die Wesermündung. Von Roberto Widmer, der das Haventheater 2011 gegründet hatte, übernahm er das gesamte Inventar. 56 Plätze gibt es in dem Zimmertheater, pandemiebedingt durften teilweise lediglich zwölf besetzt werden. „Was nur geht, wenn ich ein Solostück ansetze und nicht mehr als 100 Euro Abendgage zahlen muss. Sonst brauche ich 30 bis 40 Zuschauer, um mit Miete und Nebenkosten über die Runden zu kommen“, erklärt der Theaterleiter.

Fest angestellt sei nur eine Bundesfreiwilligendienstleistende. Gespielt wurde 2019/20 an drei Abenden die Woche. Was kamen für Menschen? „Wenn ich als 61-Jähriger mich ins Publikum setze, fühle ich mich sehr jung“, sagt Meyer-Dinkgräfe. Eine Erfahrung mit Folgen. Nachdem der Kartenverkauf ins Internet verlagert worden war, kamen zwei Drittel der Zuschauenden nicht mehr. Es hagelte Beschwerden. „Nach einem halben Jahr habe ich wieder auf telefonischen Kartenverkauf umgestellt“, so der Theatermacher.

Künstlerisch aber gelang der Neustart anspruchsvoll. In „Die Magd Zerline“ von Hermann Broch habe das Publikum noch angestrengt nach etwas gesucht, worüber es lachen konnte, erzählt Meyer-Dinkgräfe. Zu „Die Perser“ von Aischylos sei dann nur noch 20 Prozent des Stammpublikums erschienen. „Ich musste die Produktion nach 15 Vorstellungen aus dem Spielplan nehmen und durch A. R. Gurneys ‚Love Letters‘ ersetzen.“ Nach zwei niveauvollen Komödien von Alan Ayckbourn und Willy Russell übernahm das Coronavirus die Regie.

„Aus finanzieller Not brauchte ich einen Renner“, so Meyer-Dinkgräfe – und setzte im September/Oktober 2020 auf den Comedy-blöden Text „Allein in der Sauna“. Ein Dauerbrenner aus einstigen Haventheatertagen. „Mit den Einnahmen und dank der Coronasoforthilfe, Überbrückungshilfe 1 und 2 sowie der November- und Neustart-Kultur-Hilfe kann ich aber weiterhin alle Kosten bezahlen.“ Und mit „SpaceXPat“ nun sogar wieder zeitgenössisches Theater anbieten.

„SpaceXPat“, DSE, Premiere: Sa. 27. 2., 19.30 Uhr, Infos auf www.haventheater.de