Nachkriegsmoderne zu verkaufen: Was tun mit still gelegten Kirchen?

Vielerorts denken die Kirchen über die Verwendung jener Gotteshäuser nach, die in der Nachkriegszeit gebaut wurden.

Eine Kirche aus den 60er-Jahren im Kreis Gütersloh.

Original 60er-Jahre: Zum Wohnhaus umgenutzte Kirche im Kreis Gütersloh Foto: dpa/Oliver Krato

Deutschland ist christlich, nach wie vor. Rund 45,75 Millionen Mitglieder christlicher Konfessionen verzeichnet die Statistik zum Jahresende 2019, das entspricht 55 Prozent der Bevölkerung. Mit 22,6 Millionen Angehörigen liegt die römisch-katholische Kirche vorn, gefolgt von 20,7 Millionen evangelischen Gläubigen, der Rest verteilt sich auf sich orthodox und freikirchlich Bekennende. Allerdings, auch das ist nicht neu, schwinden die Mitgliederzahlen: Um die 500.000 Menschen verlassen jährlich die christlichen Gemeinden, allein die evangelische Kirche Hannover meldete 2019 mehr als 30.000 Austritte.

Beweggründe sind nicht nur in einer individuellen Glaubensentfremdung zu suchen oder schlicht in Finanziellem: der Kirchensteuer. Auch die Kirchen selbst verspielen zunehmend ihre Glaubwürdigkeit. So reißen die Skandale in der katholischen Kirche nicht ab, aktuell etwa durch Kardinal Woelki, der ein Gutachten zu Missbrauchsfällen im Erzbistum Köln zurückhält. Martin Kaufhold, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Augsburg, sieht die katholische Kirche in Deutschland sogar in ihrer Existenz bedroht: Wenn es so weitergehe, würde er ihr als Institution in dieser Form noch etwa 20 Jahre geben, sagte er kürzlich der Augsburger Allgemeinen.

Aber selbst wer dieses Szenario für übertrieben hält, kommt nicht an der Frage vorbei: Was tun mit Gotteshäusern, die aktuell und zukünftig nicht mehr benötigt werden? Sogar unter den noch solidarisch in der Kirchenmitgliedschaft Verbliebenen gehört der sonn- und feiertägliche Gottesdienstbesuch oft nicht mehr zum Ritual. Aber was heißt in diesem Zusammenhang eigentlich „benötigt“? Wie viele – oder wenige – Mitglieder sind für die Aufrechterhaltung einer Kirchengemeinde und all ihrer Räumlichkeiten das Maß aller Dinge?

Im Juni 2017 schrieb das Hamburger Abendblatt, dass 44 evangelischen Kirchen und 50 Gemeindehäusern in der Stadt die Schließung drohe. Pastor Gerhard Janke, für den Artikel fotogen weitblickend vor seinen Kirchturm postiert, hat bis heute seine Cornelius-Gemeinde im Stadtteil Fischbek am Leben erhalten können – in einer Kirche von 1964. Bemerkenswert bleibt die paradoxe Situation: Trotz kontinuierlicher Austritte steigen die Einnahmen aus der Kirchensteuer fast jedes Jahr.

Die Wolfsburger Heilig-Geist-Kirche.

Die Wolfsburger Heilig-Geist-Kirche gilt als herausragendes Beispiel für Aaltos Baustil Foto: Markus Bleyl/imago

Wenn nun aber eine Schließung für unvermeidbar erachtet wird, die Aufgabe, gar der Verkauf von Kirchenbau, Gemeindehaus und womöglich weiterer Immobilien ins Auge gefasst: Was folgt dann? Vor diesem Problem steht aktuell der Evangelisch-Lutherische Kirchenkreis Wolfsburg-Wittingen. Er ist Eigentümer der Wolfsburger Heilig-Geist-Kirche, des dazu gehörigen Gemeinde- sowie eines kleinen Pfarrwohnhauses und schließlich eines Kindergartens. Seit Ende letzten Jahres wird ein „Investor“ gesucht – die milde Umschreibung für die Absicht, die Gebäude zu veräußern.

Architekt des denkmalgeschützten Ensembles ist Alvar Aalto (1898–1976): Er erbaute es zwischen 1961 und 1962; ergänzt dann 1964 um die Kindertagesstätte. Den Kirchenraum zeichnet eine, durch die Dachkonstruktion markant strukturierte Dynamik aus sowie eine ungewohnte, nordische Lichte. Architekturhistoriker sehen in dem Kirchenbau ein Hauptwerk Aaltos. Wolfsburg verfügt mit dem gleichzeitig erbauten Kulturhaus sowie einem zweiten Kirchenzentrum – eine Ausgründung, als der Heilig-Geist-Gemeinde ihre Kirche Mitte der 1960er-Jahre zu klein wurde – gleich über drei Werke Aaltos: Die Stadt ist damit das Zentrum seines Schaffens außerhalb von Finnland.

Das Landeskirchenkirchenamt empfehle, in der gesamten Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers „den Gebäudebestand zu reduzieren“, so Werner Lemke, Baudirektor der Landeskirche, im Januar. Die Entscheidung über eine Veräußerung liege allerdings bei der jeweiligen Kirchengemeinde, nicht bei der Landeskirche. Mit sinkenden Mitgliederzahlen und abnehmender Finanzkraft ließen sich die Gebäude nur noch unzureichend unterhalten, drohten langfristig zu verfallen: „Wir wünschen uns eine denkmalgerechte Nachnutzung, um den Erhalt dieses hochkarätigen Baudenkmales langfristig zu sichern.“ Eine Machbarkeitsstudie soll beauftragt werden, anschließend die Klosterkammer Hannover einen Investorenwettbewerb ausloben.

Wie gerufen, veranstaltete Anfang dieser Woche die Volkswagen-Stiftung mit Partnern ihr „Herrenhäuser Symposion“, diesmal online, zum Thema „Kirchenumnutzung, neue Perspektiven im europäischen Vergleich“. Neben dem Hinweis auf abwegige Nachnutzungen – als Supermarkt, Fitness- und aktuell Impfcenter, für Geschosswohnen oder Erlebnisgastronomie – betonten alle Re­fe­ren­t:in­nen die Rolle eines Kirchenbaus als Wahrzeichen und Identitätsmerkmal in einem größeren gesellschaftlichen Kontext.

Hinzu komme die spirituelle Qualität des Sakralen, die Besonderheit kirchlicher Orte mit einem hohen Maß an substanzlosem Wertanteil. Kirchen stellen zudem öffentliche, jedem zugängliche Räume sowie Schutzfunktionen bereit; sie sind, zusammengefasst, „Gebilde von hoher Zwecklosigkeit“, wie der Schweizer Kunsthistoriker Nott Caviezel, Professor für Denkmalpflege an der TU Wien, den großen Nachkriegs-Kirchenbauer Walter Maria Förderer zitierte. Gerade Kirchen aus jener Zeit stellen mit neuartigen Bauform- und Raumvorstellungen ein anspruchsvolles, schwer zu entschlüsselndes – und folglich wenig geschätztes Erbe dar. So stehen denn unter den gut 45.000 Kirchen in Deutschland derzeit fast nur solche aus der Nachkriegszeit zur Disposition.

Einig waren sich die Re­fe­ren­t:in­nen auch darüber, dass eine Umnutzung kein Schnellschuss sei, sondern ein Prozess, ein „Recasting“ – so Paul Post von der Universität Tilburg –, das sehr langen Atem benötige und eine neutrale oder externe Begleitung. Schier zahllos waren die Präsentationsfolien mit Handlungsmustern und chronologischen Abläufen.

Glücklich ist eine Funktionskontinuität als religiöser Ort. So war beispielsweise das Kultur- und Gemeindezentrum „Etz Chaim“ der liberalen jüdischen Gemeinde Hannover einst Kirche, ebenso die Al-Nour-Moschee in Hamburg-Horn. Noch glücklicher allerdings ist die Kooperation der an Bord bleibenden Kirche mit einem weltlichen, kulturellen Partner: Im Falle der Christuskirche Hannover nutzt der „Mädchenchor“ als zahlender Mieter die historistische Kirche für Proben und Konzerte. Ein Verkauf des Kulturgutes Kirche – auch darin herrschte Konsens beim Symposion – sollte die Ultima Ratio bleiben.

Erst ganz zum Ende des Prozesses kann überhaupt ans Bauen gedacht werden: Kirchenumnutzungen sind keine flotte Projekt-Akquise für Ar­chi­tek­t:in­nen und nur bedingt Fingerübungen für Studierende. Das zeigen auch die Projekte, die prämierten Projekte des „Wolfsburg Award 2020“ zur Heilig-Geist-Gemeinde. Dieser zweijährlich abgehaltenen Ideenwettbewerb ruft Studierende aus ganz Europa auf, Vorstellungen für eine moderne Weiterentwicklung der Stadt zu entwerfen. Der erste Preis ging 2020 an Marlon Hecher, TU Braunschweig, der für den Innenraum der Kirche als „Aalto-Forum“ ein maßgeschneidertes, variables Möbel- und Schienensystem entwarf. Weitere – nicht prämierte – Vorschläge waren aber auch eine Nutzung als Kita oder Thermalbad. Letztere Variante dürfte abseits bautechnischer Fragen in die Kategorie „würdelose Nachnutzung“ gehören.

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