Von Spiegel- und von Wunsch­bildern

Experimentieren mit dem Selbst: Brigitte Tasts Biografie sowie ihr Fotobuch repräsentieren eine recht typische 68er-Identität

Brigitte Tast, „M. Z. und ‚Stripteuse‘ IV“ Foto: Aus dem besprochenen Band

Von Ronald Berg

Schon das Titelbild des Buches macht einiges klar: Die Fotografin Brigitte Tast blickt von oben in eine analoge Mittelformatkamera auf einem Stativ, den Drahtauslöser in der Hand. So hat man schon vor einem Jahrhundert fotografiert. Vor allem aber: Die Aufnahme kann nur mithilfe eines Spiegels entstanden sein. Der Spiegel wiederum ist das klassische Instrument der Selbsterforschung – nicht nur in der Kunst. Die Fähigkeit, sich selbst im Spiegel zu erkennen, wird allerdings durch das Menschenkind erst erworben. Passiert es dann mit spätestens anderthalb Jahren, wird die Identifizierung mit dem anderen des Spiegelbilds zur Grundlage für die eigene Identität. Der Mechanismus von Verkennung und Inszenierung ist also für die Wahrnehmung des Selbst immer schon konstitutiv.

Brigitte Tast perpetuiert und elaboriert diese Urszene der Selbstidentifikation beziehungsweise Selbstverkennung in ihren Fotoinszenierungen, die seit den 70er Jahren ihre künstlerische Arbeit bestimmen. Mit erstaunlichen Ergebnissen. Denn dieses Setting mit der Kamera als Spiegel, dem Spiegelbild als Thema und häufig auch zusammen mit Modellen, die das In-Beziehung-Treten als konstitutiv für die Beschreibung des Selbst thematisieren, produziert Intimität. Sichtbar wird das etwa durch Nacktheit im Bild, die sowohl Mittel wie Ausdruck einer – sagen wir es vorsichtig – Hoffnung auf Unverborgenheit ist. Die Wahrheit muss nackt sein, wenn sie echt sein will. Zudem, und das ist die Pointe: Die öffentlich gemachte Intimität wird als Akt der Befreiung erlebt.

Brigitte Tast, Jahrgang 1948, ist darin eine typische Vertreterin ihrer Generation: „Rot in Schwarz-Weiß“ ist nun nicht nur eine Art Autobiografie geworden, sondern auch ein exemplarisches Psychogramm einer 68er-Identität anhand von Schwarz-Weiß-Fotos und eigenen Begleittexten. Eine bestimmende Seite dieser Identität ist die immerwährende Suche nach dem Selbst. Eine solche Identität bleibt fragil, weil sie beständig versucht, den eigenen Wurzeln zu entkommen. Das was man Befreiung nannte, die Abkehr von der in der Nazizeit kompromittierten Elterngeneration und deren Habitus, das Entdecken von Gefühlen und Körper, das Ausleben von Sexualität etc., all das war ja nichts als eine Reaktion auf das, was einem buchstäblich in den Knochen steckte. Da herauszukommen mit Beat-Musik, kleinen Fluchten per Anhalter in andere Kulturen während des Urlaubs, durch WG-Aufenthalte oder einer Ehe ohne strenge Monogamie, das bildet auch für Brigitte Tast wesentliche Teile ihrer Biografie, die doch sehr typisch, vielleicht symptomatisch ist. Belegt wird das mit persönlichen Fotos aus Marokko, vom Zuhause im Dorf, von frühen Begegnungen und Erlebnissen in Swinging London oder dem alternativ-freakigen Amsterdam. Nichts Spektakuläres, sondern eher Typisches für die 68er-Generation.

In einem aber wird diese Gewöhnlichkeit aufgehoben. Das sind die Inszenierungen vor der 6x6-Kamera. Sie sind Spiel ganz im Sinne von Schillers Feststellung: „Der Mensch […] ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Am deutlichsten wird das in Tasts Buch beim Spiel mit den Puppen der Marta Kuhn-Weber. Die bislang weitgehend vergessene bildende Künstlerin (1903–1990) hat spät, mit knapp 50 Jahren, angefangen Puppen zu machen. Es handelte sich eigentlich um Porträts von Personen, die sie kannte oder die sie verehrte, man könnte auch sagen, begehrt hat – so etwa Mick Jagger oder Salvador Dalí. 30 dieser eher krude aussehenden, aus Stoffen und Holzwolle gefertigten Puppen sind seit einigen Jahren in die Obhut von Brigitte Tast und ihrem Ehemann Hans-Jürgen gelangt.

Nur dass man im echten Leben nicht so einfach mit Dalís Penis hätte spielen können

Brigitte Tast hat nun eine Reihe von Frauen gebeten, sich vor der Kamera zu den Puppen zu verhalten: Mal wird die jeweils gewählte Puppe wie ein lebendiges Wesen behandelt, als wäre es eben der verkleinerte Salvador Dalí. Nur dass man im echten Leben wahrscheinlich nicht so einfach mit Dalís Penis hätte spielen können – während der bei der Dalí-Puppe in grotesker wie einladender Weise verlängert ist. Dann scheinen auch manche Frauen sich in den von ihnen gewählten Puppen wie in einem Spiegel selbst wiederzuerkennen. Die Ähnlichkeit wird manchmal noch dadurch gesteigert, dass frau sich im Spiel der Puppe und deren laszivem Äußeren anverwandelt – mit Nacktheit sowohl wie mit Kleidung. Die Puppencharaktere waren für Marta Kuhn-Weber selbst schon Wunschbilder der eigenen Sehnsucht – vornehmlich in erotischer Hinsicht. Im Spiel vor der Kamera mit den Puppen wird das nun mit je eigenen Fantasien (re)inszeniert. Und dass es Brigitte Tast schafft, dass so etwas passiert, ist die eigentliche Leistung der Fotografin.

In Spiel mit den Puppen wird allerdings auch ausagiert, was die propagierte sexuelle Befreiung von 68 forderte, was aber offenbar nicht immer (genug) gelang und heute zumal für nachgeborene Generationen seltsam anmuten könnte. Vielleicht aber auch nicht. Denn der Drang, sich im eignen Porno zu exhibitionieren, scheint ja mittlerweile dank Social Media zum Massenphänomen geworden zu sein.

Insofern zeigt sich das Schicksal der von den 68ern erstrebten Befreiung zum Selbst im Sexuellen als Pyrrhussieg. Heute ist Sex überall – allerdings als Bild: Selbst da, wo es eigentlich um das ureigene Selbst, seine Lust und seine Befreiung gehen sollte, werden doch nur Bilder (re)produziert. Vielleicht zeigt das Brigitte Tast auf ihre Weise. Das titelgebende „Rot“ der Leidenschaft lodert doch offenbar dort am höchsten, wo das Selbst sich selbst inszenieren darf, also im Bild des/r anderen im Spiegel der Kamera. Vielleicht also ist das Selbst nur ein Spiel. Und echte Befreiung hieße dann, auch mal die Rolle wechseln zu können.

Brigitte Tast: „Rot in Schwarz-Weiß“. Kulleraugen Verlag 2020, 376 Seiten, 34 Euro