Einsicht dank Blindheit

Für ihr Buch „Wie meine Oma mir beibrachte, ohne Augen zu sehen“ hat Annette Rümmele aus Hasbergen auf die Geschichte ihrer Großmutter zurückgegriffen: Es erzählt für Blinde und Sehende, für Kinder und Erwachsene vom Begreifen und Erkennen jenseits der optischen Wahrnehmung

Schemenhaft und doch ausdrucksstark: das Bild der Oma im Buch Foto: Aquarell: Tobias Rümmele/bübül-Verlag

Von Silke Behling

Annette Rümmele hat die Geschichte ihrer Kindheit mit ihrer blinden Oma aufgeschrieben. Sie lässt den Leser daran teilhaben, wie sie als Kind erfahren hat, dass ihre Oma nichts sieht, und auch, was sie dabei über ihre eigenen Sinneswahrnehmungen gelernt hat. Die promovierte Psychologin lebt in Hasbergen bei Osnabrück. Sie weiß, was dies für die Entwicklung von Kindern bedeutet. Sie lehrte an Universitäten in Tübingen, Bern und Würzburg. Ein Schwerpunkt dabei: die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.

Rümmele ist in Würzburg aufgewachsen. In ihre Geschichte lässt sie auch Ausdrücke aus ihrer fränkischen Heimat einfließen. In den 1950er-Jahren geboren, wuchs sie in einer Zeit auf, als arbeitende Mütter wie die ihre eher die Ausnahme waren. So wurde sie, wenn der Kindergarten um 12 Uhr schloss, von der Großmutter betreut und versorgt.

Das Buch mutet auf den ersten Blick schmal wie ein Kinderbuch an, aber es richtet sich auch an Erwachsene. Im Zentrum steht ihre eigene Oma, aber nicht deren biografisch treue Geschichte, sondern eine „als Erinnerung an sie und als Andenken“, wie Rümmele sagt. Gemeinsamkeit: „Meine Großmutter war tatsächlich blind und sie fand sich ausgezeichnet in ihrem persönlichen Umfeld und ihrem kleinen Haushalt zurecht.“ Rümmele veröffentlicht seit 2014 Lyrik und Prosa: 2017 kam ihr Haiku-Zyklus „Von Feen und Kobolden“ heraus, 2018 wurde ihr Gedicht „Die Poesie der Gestalt“ von der Frankfurter Bibliothek ausgezeichnet und mit Grafiken von Hermann Wolf veröffentlicht. Dazu, die Geschichte von der blinden Oma aufzuschreiben, hat sie die Teilnahme am Schreib-Workshop „Erinnern, erfinden, erzählen“ an der Volkshochschule Osnabrück inspiriert. Gegeben hatte das Seminar damals die Berliner Schriftstellerin und Verlegerin Tanja Langer – in deren Verlag der Band auch erschienen ist.

Die Protagonistin der Geschichte heißt Rieke. Diese wird wie einst Rümmele oft von ihrer Oma betreut, wenn die Mutter arbeitet. Das Mädchen im Kindergartenalter liebt diese Zeit bei ihrer Oma. Dort fühlt sie sich ungestört, kann alles erkunden, was sie findet. Statt mit Spielzeug beschäftigt sie sich beispielsweise mit dem Kleiderschrank der Großmutter. Mit ihren vier oder fünf Jahren begreift Rieke kaum, was es heißt, dass die Oma nicht sehen kann. Für sie zählt nur die Verbundenheit zu ihr.

Die Großmutter erzählt wunderbare, erfundene Geschichten und irgendwann berichtet sie ihrer Enkelin auch von ihrer Augenerkrankung. Rieke beschäftigt das lange – und immer wieder fragt sie danach. Die Großmutter erzählt ihr, wie sie als junge Frau angefangen hat, mit ihrer Blindheit zurecht zu kommen. Rieke beginnt selbst wahrzunehmen, wie Oma sich draußen orientiert.

Als es in die Schule kommt, lernt das Mädchen lesen. Doch richtig wohl fühlt es sich nicht damit, etwas zu können, was Oma nicht kann

Was es bedeutet, blind zu sein, erfasst das kleine Mädchen im Buch erst nach und nach. Dabei merkt sie, dass die Oma manchmal mehr „sieht“ als die Sehenden. Sie hört die Milch kochen und riecht das Bohnerwachs im Flur. Rieke wird sich der Bedeutung von Sinneswahrnehmungen bewusster.

Als es in die Schule kommt, lernt das Mädchen lesen. Doch richtig wohl fühlt es sich nicht damit, etwas zu können, was die Oma nicht kann. Das verwirrt Rieke. Als sie im Grundschulalter einen Unfall erleidet, steht sie unter Schock. Sie will nur noch die Person sehen, die ihr Sicherheit bietet, spricht nur noch einen einzigen Satz: „Die Oma soll kommen“ – und verstummt dann.

Körperlich ist sie gesund, aber sie schweigt. Rieke leidet unter selektivem Mutismus und stellt sich vor, stumm zu sein und gleichzeitig blind wie die Oma, die sie pflegt. Als sie sich mit geschlossenen Augen durch den dunklen Flur tastet, stößt sie sich und weint. Sogleich ist die Oma bei ihr und Rieke flüstert: „Jetzt sind wir beide blind.“ Es dauert noch Wochen, die sie größtenteils bei der vertrauten Großmutter verbringt, bis sie wieder spricht. „Oma ist blind und ich bin stumm“, sagt Rieke am Ende der Geschichte – und spricht doch wieder.

Die Geschichte ist kurz und am Ende hätte man Rieke und ihre Oma gern noch ein wenig weiter begleitet. Nicht nur wegen des folgenden Spielteils beschäftigt einen das Buch, das auf nur 29 Seiten doch so viel über die Sinne und das Leben ohne Sehen vermittelt. Man spürt, wie wichtig für die Pro­tagonistin Rieke das Erleben bei der Oma war. Rümmele bestätigt: „Es faszinierte mich als Kind, dass meine Großmutter Dinge oder Ereignisse viel früher wahrnahm als beispielsweise meine Eltern oder ich selbst“, erzählt sie. „Sie ließ nie die Milch überkochen, weil sie hörte, wenn sich das Kochgeräusch veränderte, oder sie roch eine Möbelfabrik, als der Rest der Familie noch rätselte, was denn das für eine ­Fabrik sei.“ Auch habe sie die Fähigkeit besessen, einen nicht umgenähten Saum am Vorhang oder die Uhrzeit an der Standuhr zu ertasten.

Als eine Welt, in der die Blindheit der Großmutter mehr eine Bereicherung als eine Einschränkung darstellt, beschreibt Rümmele die Erlebnisse des Mädchens: „Für Rieke eröffnete sich durch die Wahrnehmung ihrer Großmutter eine weitere Welt, die ihre eigenen Sinne schärfte.“ Rieke werde sich bewusst, dass das Sehen nicht selbstverständlich ist und damit ein sehr hohes Gut darstelle. So prägend seien die Erlebnisse bei der Oma auch für Rümmele selbst gewesen. „Früh wurde dadurch wie nebenbei mein großes Interesse an den Bedingungen von stark eingeschränkten Menschen in unserer Gesellschaft geweckt.

Eine Koproduktion von Mutter und Sohn: Annette und Tobias Rümmele Foto: privat

Bis heute zehre ich von ungezählten Erlebnissen und Erfahrungen aus dieser intensiven Zeit, zusammen mit meiner Oma“, sagt die Autorin. Seit 1995 arbeitet sie mit KrankenpflegeschülerInnen, mit SeniorInnen und entwicklungseingeschränkten Menschen.

Aber ihr Buch handelt keinesfalls nur von Sinneswahrnehmungen. Es ist auch ein Buch über Familie und generationenübergreifendes Erleben. Genau das wurde bei der Entstehung des Bandes fortgeführt: Die Aquarelle, mit denen der Band illustriert ist, stammen von Annette Rümmeles Sohn Tobias. „Ich hatte mit der Zusammenarbeit auch den Wunsch, sein Interesse an dem Leben und Alltag seiner Urgroßmutter zu wecken“, sagt die Autorin. Hauptbeweggrund sei aber schon gewesen, ihm eine Plattform zu bieten. Tobias Rümmele ist gelernter Goldschmied, lebt ebenfalls in Hasbergen bei Osnabrück und arbeitet als Landschaftsgärtner.

„Wie meine Oma mir beibrachte, ohne Augen zu sehen“ ist in der Reihe „Bübül +“ erschienen. Zu den Themen, die die Bücher aufgreifen, gibt es eigene Materialien, die sich in erster Linie an Kindergarten- und Grundschulkinder richten: „Natürlich wäre es großartig, wenn besonders beeinträchtigte Kinder auf diese Geschichte und die dazugehörigen Spiele aufmerksam würden“, sagt Rümmele. So sei das Buchstaben-Dominospiel im Anhang so konzipiert, dass blinde und sehende Kinder es gemeinsam spielen können – und dabei die Brailleschrift kennenlernen.

Annette Rümmele: „Wie meine Oma mir beibrachte, ohne Augen zu sehen“, Bübül-Verlag, 46 S., 12 Euro