Autorin Brigitte Theißl über Klassismus: „Medien lieben Aufsteigergeschichten“

Brigitte Theißl schreibt über Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft. Beteiligt daran sind ihr zufolge auch Medien. Ein Gespräch über Klassismus.

Ein SUV parkt nebem einem Kleinwagen in Berlin

Klassismus der Dinge: „SUV“ neben einem Kleinwagen in Berlin Foto: Erik Irmer

taz: Frau Theißl, die Autokorrekturfunktion an meinem Computer macht aus dem Wort Klassismus immer „Klassizismus“. Was ist Klassismus und wer ist davon betroffen?

Brigitte Theißl: Es ist eine sehr junge Debatte im deutschsprachigen Raum. Der Begriff bezeichnet analog zu Sexismus und Rassismus eine Unterdrückungs- und Diskriminierungsform, eben aufgrund der Klassenzugehörigkeit oder auch Klassenherkunft. Das bedeutet, dass Menschen, die von Klassismus betroffen sind, von materiellen Ressourcen ausgeschlossen sind, aber auch von politischer Partizipation. Dass sie abgewertet und ausgegrenzt werden. Das trifft zum Beispiel wohnungslose Menschen und Menschen mit wenig Einkommen.

Linke Kri­ti­ke­r*in­nen haben Ihnen vorgeworfen, der Begriff sei überflüssig und verstelle den Blick auf das Wesentliche, nämlich den Klassenkampf. Wieso ist der Begriff Klassismus hilfreich?

Uns wurde vorgeworfen, dass wir gar keine Umverteilung fordern würden, sondern Betroffene nur netter behandeln wollen. Das ist ein Missverständnis. Mir geht es nicht darum, dass mehr Ar­bei­te­r*in­nen­kin­der aufs Gymnasium kommen, sondern, dass das Gymnasium abgeschafft wird, um ein gerechteres Bildungssystem zu schaffen. Antiklassistische Analysen können dabei helfen zu verstehen, wie Klassengesellschaft funktioniert. Klassismus ist auch eine Ideologie, mit der bestimmte Politik gerechtfertigt wird. Wenn wir zum Beispiel von Menschen in der „sozialen Hängematte“ sprechen oder von „Zuwanderung in den Sozialstaat“, dienen diese Geschichten als Rechtfertigung für neoliberale Politik.

Inwiefern bedienen Medien ein neoliberales Narrativ?

Medien lieben Aufsteigergeschichten, also die klassischen Hollywoodgeschichten. Diese Geschichten handeln von individuellen Anstrengungen und Erfolgen, aber es werden selten Geschichten erzählt über die Hürden und warum man es nicht oder trotzdem geschafft hat. Klassismus ist eine strukturelle Diskriminierungsform, die ganz individuelle Auswirkungen hat, auf Lebenserwartung, Bildungsabschlüsse oder Gesundheit. Aber wenn ich nur auf individuelles Versagen blicke, blendet das strukturelle Diskriminierung aus.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Medien nicht über Klassismus, dafür aber klassistisch berichten. Wie äußert sich das in der Berichterstattung?

Da gibt es eine große Bandbreite. Am bekanntesten sind Reality-TV-Formate, in denen erwerbslose Menschen so ­inszeniert werden, als säßen sie den ganzen Tag zu Hause auf der Couch, zockten und als wollten sie sich keine Arbeit suchen. Dann gibt es natürlich die Bild-Zeitung, die eine regelrechte Kampagne gefahren hat gegen Menschen wie den „faulsten Arbeitslosen Deutschlands“. Subtiler wird es dann, wenn Menschen, die rechte Parteien wählen und auf deren Demonstrationen gehen, mit abwertenden klassistischen Begriffen beschrieben werden. Es gibt Beispiele, bei denen wurden diese Menschen als die hässlichsten Menschen Wiens bezeichnet oder als Nazimonster – mitsamt ihrer schlecht sitzenden Leggins und ­Glitzer-T-Shirts. Da geht’s dann nicht mehr um strukturellen Rassismus, sondern eben um einzelne Monster, die man ausstellen kann.

ist freie Journalistin und Redakteurin des österreichischen Magazins „an.schlaege“. Ihr letztes Buch „Klassenreise. Wie die soziale Herkunft unser Leben prägt“ (ÖGB Verlag) erschien im Oktober 2020.

Berichten seriöse Medien auch klassistisch?

Insgesamt kommen in Qualitätsmedien Menschen aus der Ar­bei­te­r*in­nen und Armutsklasse zu wenig zu Wort. Armutsberichterstattung ist oft problematisch, wenn Jour­na­lis­t*in­nen mit einem Blick von außen in ein gerne genanntes Problemviertel fahren und eine armutsbetroffene Familie vielleicht sogar voyeuristisch ausstellen. Die Betroffenen könnten sehr viel über Armut, über Diskriminierung, über Probleme mit Ämtern erzählen, aber sie sollen nur erzählen, wann das Geld nicht gereicht hat, was sie gegessen haben und wie klein das Kinderzimmer ist.

Betrifft das auch diese Zeitung?

Ich kann keine pauschale Diagnose geben. Tendenziell ist die Berichterstattung besser, aber mir sind auch schon in der taz problematische Dinge aufgefallen.

In den vergangenen zwei Jahren hat der Presserat 36 Entscheidungen über Beschwerden wegen diskriminierender Berichterstattung (Ziffer 12 des Pressekodexes) getroffen. Keine einzige Beschwerde bemängelt Diskriminierung wegen Armut. Woran liegt das.

Das wundert mich nicht. Es gibt noch viel zu wenig Bewusstsein für dieses Thema. Das war früher bei Geschlechterdiskriminierung genauso und dort gibt es noch immer sehr viele Baustellen und Missstände.

Was sagt das über Jour­na­lis­t*in­nen und deren Redaktionen aus?

Ich unterstelle vielen Jour­na­lis­t*in­nen keine Absicht. Die Zusammensetzung der Redaktionen ist das Problem. Immer mehr Jour­na­lis­t*in­nen kommen aus einem akademischen Haushalt. Viele kommen auch von Journalistenschulen, auf denen laut Studien ebenfalls eine elitäre Herkunft überwiegt. Es gibt also viele, die niemanden in ihrem engeren Umfeld haben, der oder die nicht studiert hat. Das prägt die Themenauswahl und die spiegelt dann vor allem die Welt der Mittel- und Oberschicht wider.

Warum ist es für von Klassismus Betroffene so schwierig, in die Redaktionen vorzudringen?

Oft ist schon der Einstieg ein Problem. Im Journalismus sind das meistens unbezahlte Praktika. Von einem solchen Berufseinstieg über Praktika oder Volontariate kann man oft nicht leben. Oder erste Beiträge werden ohne Bezahlung oder mit sehr geringer Bezahlung gefordert, gerade bei Qualitätsmedien. Das heißt, den beruflichen Einstieg muss man sich erst mal leisten können.

Wie erhalten sich diese Klassenstrukturen in den Redaktionen und wie schreiben sie sich fort?

Viele Menschen, die eine Klassenreise hinter sich haben, sagen, dass sie sich an bildungsbürgerlichen Orten fremd fühlen. Etwa, weil ihnen das Vokabular fehlt, sie an Erfahrungen nicht anknüpfen können und sie merken, da gehören sie nicht hin. Der Reporter Juan Moreno, der den Fälschungsskandal beim Spiegel aufgedeckt hat, hat das in seinem Buch gut beschrieben. Er wurde vom Portier seiner Redaktion mal für einen Taxifahrer gehalten. Das sind strukturelle Ausschlussmechanismen. Wenn man sich trotzdem irgendwo reinkämpft, erfordert es eine große Anpassungsleistung, um sich durchzusetzen.

Wie können sich Medien denn für die Perspektiven von Menschen öffnen, die von Klassismus betroffen sind?

Von den so genannten Auf­stei­ger*in­nen, die ich für mein Buch befragt habe, haben mir die wenigsten erzählt, dass sie sich besonders angestrengt haben oder sie besonders intelligent waren, sondern dass sie an bestimmten Punkten ihres Lebens Glück hatten und gefördert wurden.

Wie könnte diskriminierungsfreie und respektvolle Berichterstattung aussehen?

Einerseits ist es wichtig, stets die eigene Sprache zu reflektieren und solche Begriffe wie „sozial Schwache“ oder „Unterschicht“ endgültig zu streichen. Es gibt dazu allerlei Leitfäden. Das Gleiche gilt für die Bildsprache. Bilder, die Menschen auf einem kaputten, verlassenen Spielplatz von hinten mit zerrissener Kleidung zeigen, stigmatisieren Menschen ebenso. Außerdem ist es ganz wichtig, dass Betroffene selbst zu Wort kommen und sie nicht nur zu ihrer Biografie, sondern auch als Ex­per­t*in­nen für ihre eigene Lebenssituation befragt werden. Und sehr relevant ist es auch, eine gesellschaftliche Dimension zu finden und nicht nur bei der individuellen Geschichte stehen zu bleiben.

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