Der Hausbesuch: Auf zwei Rädern ins Glück

Beständigkeit trägt Renate Wiehmann durchs Leben. Dazu der Glaube, dass alles gut wird. Abwechslungsreich ist ihr Leben trotzdem.

Eine Frau in blauem Pullover steht in ihrem Wohnzimmer. Die Möbel sind aus Holz

Blau ist ihre Lieblingsfarbe Foto: Miguel Ferraz Araujo

Alles hat seine Zeit, sagt Renate Wiehmann. Und nach 40 Jahren im Schuldienst fängt jetzt ihre Zeit an.

Draußen: Zweimal in der Stunde hält der Zug aus Hamburg in Stade. Wer Sehnsucht nach dem Meer hat, den bringt die Bahn weiter an die Küste. Die Straße, in der Renate Wiehmann wohnt, liegt nah beim Bahnhof. Das trifft sich gut, denn sie hat kein Auto, aber eine Bahncard. Und ein Fahrrad. Wenn das Wetter es zulässt, erwischt man die große, schlanke Frau meist auf dem Rad, nach links, nach rechts grüßend. Nach 46 Jahren in der norddeutschen Kleinstadt kennt sie die Menschen. Einfamilienhäuser prägen das Viertel, ihr rotes Backsteinhaus fällt auf, wegen der schönen blauen Tür.

Drinnen: Blau geht es weiter, von der Tischdecke zum Set, zur Kaffeekanne. „Blau ist meine Lieblingsfarbe, blau, grün und türkis“, sagt sie. Diese Farben hat auch ihr Pullover, im vergangenen Jahr hat sie ihn gestrickt. Jetzt sitzt sie am Tisch in ihrer Wohnküche und strickt an einem ähnlichen Modell. Immer wieder klingelt das Telefon. Im März wird das fünfte Enkelkind geboren. Drei Uhren ticken, die Standuhr ist ein Erbstück des Vaters. „Die höre ich gar nicht mehr.“ Aus der Küche führt eine Glastür in den Garten. Sie sitzt gerne dort, trinkt Kaffee, beobachtet die Vögel. Was in der Welt passiert, erfährt sie aus dem Küchenradio und aus dem Stader Tageblatt. Früher bewohnte sie das Haus mit Mann und Kindern, inzwischen vermietet sie die obere Etage an Lehr­amtsreferendar*innen.

Damals: Ihre Kindheit verbrachte sie mit vier Geschwistern in einem kleinen Dorf in Ostwestfalen, der Vater war Pfarrer, die Mutter Ärztin. Der Beruf des Vaters prägt das Familienleben, religiöse Andachten und gemeinsames Singen gehören zum Alltag. „Da war nicht nur meine Familie. Diakonissen, Kindergärtnerin, Kriegerwitwen und Küster, in meiner Erinnerung gaben die mir alle viel Wärme, Liebe, Geborgenheit und Verständnis.“ Sie helfen, den Tod der Mutter zu verwinden. „Die Krebserkrankung meiner Mutter und ihr früher Tod mit 39 haben mein Vertrauen in Gott und unsere kleine Welt ganz schön ins Wanken gebracht.“ Zuflucht findet sie in der Musik, sie spielt Bratsche und Flöte. Familienurlaube gibt es selten, stattdessen Ferienaufenthalte bei Verwandten oder Kinder– und Jugendfreizeiten, meist mit ihrer jüngeren Schwester Annemarie. An all das denkt sie gerne zurück.

Eigene Wege: Der enge dörfliche Rahmen passt Ende der Sechziger nicht mehr. Die Einflüsse der Kleinstadt, in der das Mädchengymnasium war, auf das sie ging, die Denkanstöße in der Schule, Martin Luther King, Protestsongs von Joan Baez und Bob Dylan, der Vietnamkrieg, all das prägt sie: „Damals habe ich erkannt, wie wenig selbstverständlich die eigenen Bequemlichkeiten sind. Meine Herkunft wollte ich teilweise leugnen.“

Ein aufgeschlagenes Notenblatt, darüber liegt ein Bleistift

Jeden Tag übt sie Bratsche Foto: Miguel Ferraz Araujo

Aufbruch: Nach dem Abitur geht sie ins Ausland, will Abstand bekommen, herausfinden, welche Werte der Familie sich weiter tragen. Ein Jahr lang arbeitet sie in einem Kinderheim an der finnischen Westküste, darauf folgt ein Studienjahr im schwedischen Uppsala, dann ein Lehramtsstudium in Göttingen. Die kritische Sicht auf die Bibel an der Uni, die ehrenamtliche Arbeit in einer Psychiatrie und das Zusammenleben mit der 90-jährigen körperlich behinderten Vermieterin erweitern ihren Horizont.

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Im Leben stehen: Bei einem Campus-Fest 1974 lernt sie Süleyman kennen, den Promotionsstudenten aus der Türkei. „Er war ein begnadeter Tänzer, deshalb fiel er mir auf. Meine Stärke war das Tanzen nie.“ Wenige Tage später bricht Süleyman mit seinem Opel Kadett für die Sommermonate in die Heimat auf. Von dort schreibt er ihr eine Postkarte. Zurück in Göttingen treffen sich der liberale Moslem und die gläubige Protestantin, verlieben sich.

Hindernislauf: „In meinem Heimatdorf war das ein kleiner Skandal. Da gab es kein Industriegebiet mit Gastarbeitern, Ausländer kannte man kaum“, sagt Wiehmann. Die Verbindung stößt auf Ablehnung, doch das ungleiche Paar bleibt zusammen. „Meine Schwiegereltern hatten sich gewünscht, dass ihr Sohn in die Heimat zurückkehrt. Als klar wurde, dass das nicht passiert, gaben sie mir alle aus Deutschland mitgebrachten Geschenke zurück.“

Die Lehrerin: Sie beginnt 1975 das Referendariat in Stade, findet eine Stelle an der Sonderschule für lernbehinderte Kinder. Süleyman und sie heiraten, kaufen ein Haus, bekommen innerhalb von sechs Jahren drei Kinder. „Das Kennenlernen einer anderen Kultur und die vielen Reisen in die Türkei als das Land noch so weit entfernt schien, habe ich als unheimlich bereichernd empfunden.“ Süleyman spricht türkisch mit den Kindern, also lernt auch sie es. „Noch heute kann ich mich im Alltag gut verständigen.“

Der Hausmann: Sie liebt die Arbeit an der Montessori-Schule im sozialen Brennpunkt, die sie später annimmt, doch diese ist auch kräftezehrend. Der promovierte Agrarwissenschaftler dagegen findet keinen Job, also kümmert er sich um die Kinder, kocht, während sie arbeitet. Das Konzept geht nicht auf, sie trennen sich, im Guten. „Vielleicht waren wir doch zu unterschiedlich.“ 1995 zieht Süleyman aus.

Ein Backsteinhaus mit Garten

Seit die Kinder aus dem Haus sind, ist es ruhiger hier Foto: Miguel Ferraz Araujo

Neues Glück: Mehrmals im Jahr führt sie beim Allgemeinen Deutschen Fahrradclub Touren durchs Alte Land. 1999 ist Reinhart dabei. Wieder beginnt alles mit einer Postkarte, die er ihr schreibt, damit hat er bei der leidenschaftlichen Briefeschreiberin gleich einen Stein im Brett. Sie treffen sich öfter, entdecken viele Gemeinsamkeiten: die Liebe zur Musik, zum Radeln, ähnliche Ansichten in Glaubensfragen. Im September lernen sie sich kennen, im Dezember die erste gemeinsame Reise auf die friesische Insel Amrum. „In dem Alter zaudert man nicht mehr.“ Seitdem verbringen sie jeden Jahreswechsel auf der Insel. Nur in diesem Pandemie-Januar fiel das aus.

Pandemie: Corona macht ihnen in jeder Hinsicht 2021 einen Strich durch die Rechnung. Reinharts Geburtstag am 2. Januar verbringen sie erstmals nicht in dem kleinen Café auf Amrum, stattdessen fahren sie mit Schnittchen und einer Thermoskanne Tee mit der S-Bahn bis zur Endstation nach Pinneberg. „Jetzt weiß ich, dass es bei uns schöner ist und bin beruhigt.“ Zusammen ziehen will das Paar einstweilen nicht. „Ehe und Familienleben hatten wir zu Genüge. Sich aufeinander freuen, Verabredungen haben, das genießen wir sehr.“

Beständigkeit: Seit 1963 schreibt Wiehmann Tagebuch, jeden Tag. „Wenn ich die Notizen lese, weiß ich immer, wie es mir in dem Moment ging.“ Vor sechs Jahren ging sie in Pension. Trotzdem, von Langeweile ist keine Spur, sie ist beschäftigt: montags Chor, dienstags Orchester, seit 40 Jahren. Reinhart holt sie mit dem Fahrrad ab, jedes Mal. Mittwochs wird geputzt, donnerstags ist sie beim Internationalen Chor, freitags Früh Bratschenunterricht, „den gönne ich mir, seit ich in Pension gegangen bin“, und dafür wird täglich geübt. Abends Hausmusik mit Reinhart. Jeden Mittag gehen beide zusammen spazieren. Am Wochenende besuchen sie gern einen Gottesdienst. Mehrmals pro Woche kommen geflüchtete Frauen aus Afghanistan und Syrien zu ihr, mit denen sie die deutsche Sprache übt.

Glaube: Aus ihrem Glauben zieht sie Kraft und Zuversicht, sagt Wiehmann. „Bildlich gesprochen würde ich sagen, mein Glaube bringt mein Inneres zum Leuchten und zur Ruhe, in schweren Zeiten.“ Wenn man mit so vielen christlichen Liedern aufgewachsen sei, manifestiere sich das eben im Kopf, wie ein schützender Mantel. „Ich habe immer eine Zeile parat aus Liedern wie „Du meine Seele singe“ oder „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Und gleich fühle ich mich besser.“ Ihre beiden Schwestern wurden Pfarrerinnen, die Brüder haben mehr Distanz zur Kirche. „Meinen Kindern konnte ich nicht das tiefe Vertrauen, das ich im Glauben gefunden habe, weitergeben. Ich bin aber dankbar, dass für sie Werte, die für ein gelingendes Zusammenleben stehen, bedeutsam sind.

Siebzig: Die große Feier zum 70. im November fiel wegen Corona ins Wasser, nachholen wird sie sie nicht. „Mein Sohn und seine Freundin waren da und haben mir die erste Videokonferenz meines Lebens mit der ganzen Familie beschert, das war eine große Freude.“

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