Der Ethikrat: Die frühen Arbeiter im Weinberg

Was tun, wenn die Coronasolidarität bröckelt und der Blick auf die anderen bitter wird? Die Antwort findet der Ethikrat in einem Gleichnis.

Kopf und Vorderlauf einer griechischen Landschildkräte

Helena sollte die Schildkröte heißen, wegen der schönen Bänderung ihres Panzers Foto: Boris Roessler/dpa

Kürzlich traf ich den Ethikrat am Ausgang eines Geschäfts für Tierbedarf. Eigentlich vermeide ich es, dorthin zu gehen, weil es dort lebende Heuschrecken zu kaufen gibt, die sich in kleinen Plastikdosen drängen. Ihr Schicksal hat meine Kinder empört, aber noch immer habe ich nicht beim Tierschutzbund angerufen und gefragt, ob der Tierschutz auch das Wohl der Heuschrecken bedacht und irgendwelche Regelungen für sie getroffen hat. Um den Heuschrecken nicht zu begegnen, bog ich vor der Terrarienabteilung in die Katzenfutterabteilung ab und dachte, dass das Leben als Beutegreifer schöner sein muss als das als Beutetier.

Als ich das Katzenfutter bezahlte, entdeckte ich den Ethikrat, dessen Vorsitzender eine Schildkröte auf dem Arm hielt. Der Ethik­rat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Handreichungen in Sachen praktischer Ethik geben. Zu Coronazeiten sind unsere Treffen rar geworden, dabei ist mein Beratungsbedarf groß.

„Haben Sie schon einen Namen?“, fragte ich den Ratsvorsitzenden. „Helena“, sagte der Vorsitzende und strich sachte über den Schildkrötenpanzer. „Sehen Sie die Schönheit der Bänderung?“ Ich sah schwarze Flecken und urzeitlich schuppige Beine, aber nie und nie sollte man die Schönheit von Kindern und Haustieren hinterfragen.

„Darf ich Sie mit einer praktischen Frage behelligen?“, sagte ich stattdessen. „Ich stelle an mir eine Coronadeformation fest, einen zunehmend finsteren Blick auf meine Umwelt.“ „Was genau meinen Sie damit?“, fragte der Ratsvorsitzende und setzte die Schildkröte ab. Seine Ratskollegen knieten sich auf den Boden, um ihr unheimlich aussehende knöcherne Futterbrocken vorzuhalten, doch Helena zog verstockt den Kopf ein.

„Meine Kinder sind jetzt seit Monaten zu Hause und wenn ich an der Kita oder Schule vorübergehe, betrachte ich unfroh die Kinder dort“, sagte ich. „Bei manchen weiß ich, dass die Eltern eh zu Hause …“ „Was wollen Sie damit sagen?“, unterbrach mich der Vorsitzende. „Dass ich mich frage, ob mein Beitrag zum Gemeinwohl irgendwann irrelevant wird, weil die Kita ohnehin voll ist“, sagte ich.

Kita-Scham und Betreuungsneid

Kürzlich hatte ich den Artikel einer Journalistinnenmutter über ihre Kita-Scham gelesen, das ungute Gefühl, Betreuung in Anspruch zu nehmen, obwohl sie ihre Arbeit zumindest nicht neun Stunden am Stück als systemrelevant empfand. Dann habe ich wohl Betreuungsneid, dachte ich und las einen Leserkommentar zum Artikel, in dem jemand hämisch anmerkte, dass sich die Autorin völlig zu Recht schäme.

Du bist nicht mein Geistesverwandter, dachte ich in Richtung Kommentarschreiber, oder du solltest es nicht sein, und hatte dabei das Gefühl, in einen zu gut beleuchteten Spiegel zu sehen, in dem man Unebenheiten des eigenen Gesichts findet, die man gar nicht kennenlernen wollte. Aber dann hörte ich ein Interview, in dem eine kluge Frau über das begrenzte Gut Solidarität sprach. Ja, dachte ich, man soll die Willigen nicht überstrapazieren durch die Tranigkeit der weniger Willigen und schickte finstere Gedanken Richtung Kita.

Eines der Ratsmitglieder klopfte Helena auf den Panzer, um ihr Interesse für die Brocken zu wecken. „Nicht doch“, sagte der Ethikratsvorsitzende, „wir müssen ihre Grenzen wahren.“ „Hört, hört“, dachte ich und fand meine eigenen ungewürdigt, aber ich schwieg. Der Ratsvorsitzende seufzte und wandte sich mir zu.

„Vielleicht ist Ihnen das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg ein Begriff.“ Natürlich war mir das Gleichnis ein Begriff. Mich hatte schon immer geärgert, dass die Arbeiter, die später angeheuert worden waren, genauso viel Lohn bekommen sollten wie diejenigen, die früh begonnen hatten.

Am meisten hatte mich der herablassende Ton des Gutsbesitzers verstimmt: Es nimmt euch doch nichts, hatte er die Ärgerlichen abgewehrt: Euer Lohn bleibt gleich. Und zwischen den Zeilen: „Ihr Kleingeister“. Konnte man das Gesamtgefüge nicht trotzdem ungerecht finden? „Ich kenne das Gleichnis“, sagte ich mürrisch.

„Dann lesen Sie’s noch mal“, sagte der Vorsitzende und holte ein gelbes Geschirr hervor, in das er Helena einschnallte. Langsam und grußlos gingen sie davon.

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ist taz-Redakteurin in Hamburg und schreibt bevorzugt über ökonomisch wertlose Beschäftigungen. Ihr Buch „Warten. Erkundungen eines unge­liebten Zustands“ erschien 2014, „Schlafen. 100 Seiten“ 2019.

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