Bergamo ein Jahr danach: Stadt ohne Atem

Renata Colombi ist Notfallärztin im Krankenhaus von Bergamo. Wie hat sie das Jahr seit Ausbruch der Pandemie erlebt?

Colombi mit Maske in der Notaufnahme, drumherum Kolleg*innen

Renata Colombi und ihre Kol­le­g*in­nen im Januar 2021 Foto: Fabio Bucciarelli

Am 20. Februar 2020 kam im Krankenhaus der Kleinstadt Codogno, rund hundert Kilometer von Bergamo entfernt, eine Ärztin auf eine abwegige Idee. Sie testete einen 38 Jahre jungen, sportlichen, aber schwer atmenden Mann auf Sars-CoV-2. Mattia Maestri heißt der Mann, er wurde der Patient Numero 1 und hat überlebt – ein Jahr ist das jetzt her.

Damals hatte Renata Colombi, die in Bergamo die Notaufnahme des Krankenhauses Papa Giovanni XXIII. mitleitet, noch mit den üblichen Notfällen zu tun. „Sie kamen ja sogar mit ausgerissenen Piercings und Mückenstichen zu uns“, sagt die 54-Jährige bei einem Gespräch in der Notaufnahme. Aber nicht mit einem Virus wie diesem, das keiner kannte und das eine weltweite Pandemie auslösen sollte – mit einer ersten Welle von März bis Mai, einer zweiten von Oktober bis Januar und bald, das befürchtet Colombi, womöglich einer dritten. Vor zwei Wochen öffneten die Lokale und Läden in Italien, seitdem sieht Colombi wieder mehr Patienten, die um Atem ringen. Nicht mehr zwei oder drei täglich, sondern fünf, sechs, sieben.

Renata Colombi, diese große, kräftige, unternehmungslustige Frau, lebt mit ihrer 80 Jahre alten Mutter und vier Katzen zusammen, eine weiß, eine schwarz, eine rot, eine grau. „Ohne die Liebe meiner Katzen“, sagt sie, „hätte ich dieses Jahr nicht überlebt.“

Zwei Tage nachdem in Codogno Patient Numero 1 aufgetaucht war, bekam Colombis Krankenhaus seinen ersten Covid-19-Patienten. In der Nacht vom 22. auf den 23. Februar. Er wurde von einem kleineren Krankenhaus überstellt. Kurz darauf fuhr Colombi wie geplant zum Skifahren nach Südtirol. China war weit weg und Colombi dachte: „Wir sind Italiener. Wenn’s ernst wird, krempeln wir schon die Ärmel hoch!“

Blaulicht, Stille, Krieg

Am 23. Februar ließ der italienische Regierungschef Giu­seppe Conte die Region um Codogno abriegeln, und die „Zona Rossa“ wurde zum ersten Sperrgebiet Europas. Auf der Rampe hoch zu Colombis Notaufnahme war es da, so erzählt sie, noch verhältnismäßig still.

Am 29. Februar riefen ihre Kollegen sie von der Piste zurück.

Und es begann, was die Ärztinnen hier, die Pflegerinnen, die Sanitäter noch heute mit starren, wie traumatisierten Gesichtern als Krieg bezeichnen. 27.938 Covid-Tote zählte die Lombardei, die Region um Bergamo, bis Redaktionsschluss, fast ein Drittel aller Todesfälle in Italien. Sie ist die am schwersten von Corona betroffene Region Europas. Die Bilder aus den überfüllten Notaufnahmen – auch aus der von Renata Colombi im Krankenhaus Papa Giovanni – gingen um die Welt. Die Lombardei ist auch eine der reichsten Regionen Italiens. Korrupte Politiker hatten das Gesundheitswesen so privatisiert, dass es die Allgemeinheit gefährdete.

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Nachdem Colombi aus dem Urlaub zurückgekehrt war, begann die Zeit, in der sie ihren Motorroller morgens immer so parkte, dass sie die Rampe mit den Rettungswagen bei ihrer Ankunft nicht sehen musste. Noch einen Augenblick Ruhe und Abstand. Die Wagen standen Schlange, mit Blaulicht, den Ton stellten sie irgendwann ab.

Triage gehörte zum Alltag

Dutzende, Hunderte Menschen, immer mehr, stauten sich in ihrer Notaufnahme. Im Warteraum, im Behandlungsraum mit seinen erst 7, dann 18 Betten, im Schockraum, im Raum, auf dem später PEMAF stehen würde – „Notfallplan für maximalen Zustrom“, im ganzen Krankenhaus, das sie aufteilen mussten, in „schmutzige“, also infizierte, und „saubere“ Bereiche.

„Wir schoben Betten in die Räume“, erinnert sich Renata Colombi, „noch welche, noch dichter, wir zogen Schutzkleidung an, wir rangen nach Atemmasken, Atemhelmen, Beatmungsgeräten, nach Sauerstoff, überall standen Sauerstoffflaschen, erst 100, dann 600.“

Und an manchen Orten standen gar keine. Denn genug Sauerstoff gab es nicht. Colombis Kollege, der Notarzt Pietro Brambillasca, ein Mann mit ergrauenden Haaren, sagt: „Triage gehört zu unserem Job. Wenn wir zu einem Unfallort mit 20 Verletzten kommen, müssen wir entscheiden, wer am dringendsten behandelt werden muss, wer es erst mal so schaffen kann und wer vermutlich stirbt.“ Aber in den Tagen und Wochen zwischen Februar und April wurde Brambillasca zu Menschen mit einer Sauerstoffsättigung von 60 Prozent gerufen, unter 85 wird es kritisch – und er hatte keine einzige Sauerstoffmaske mehr. So etwas hatte der Notarzt noch nicht erlebt.

Jeden Morgen um sieben, wenn Renata Colombi ankam, waren 20, 30 neue Patien­ten da, für die sie keine Betten hatte. Und dann, sagt sie, sei das Schlimme an dieser Arbeit gekommen, die doch eigentlich ihre Berufung sei: Aussortieren. Die Jungen und die schweren Fälle. Manche Patienten blieben schon in der Notaufnahme liegen und starben dort, allein.

Sie arbeiteten durch, auch als sie krank wurden

Jeden Abend, erzählt sie, riefen sie und ihre Kolleginnen die Angehörigen an, um zu berichten und zu trösten. Und dann saß das Team noch gemeinsam in seinem Covid-Einsatzraum. Ein fensterloses Zimmer mit drei abgewetzten Ledersesseln und einem Tisch, auf den sie Kekse und Kaffee stellten. Jemand machte entspannende New-Age-Musik an. „Das half ein wenig“, sagt Renata Colombi und schlägt die Hände vor die Augen. Normalerweise kann sie New Age nicht leiden.

Renata Colombi zuhause in ihrer Küche, vor ihr auf dem Tisch sitzen zwei Katzen

„Ohne die Liebe meiner Katzen hätte ich dieses Jahr nicht überlebt“, sagt Renata Colombi Foto: Fabio Bucciarelli

Das Gesundheitsamt riefen sie und ihr Team auch täglich an. Nie ging einer ran, und es rief auch keiner zurück. Nicht mal um sich zu bedanken. Eine Delegation von Ärzten aus China kam, um zu helfen. Ihr Chef warnte die Welt auf Twitter. Ärzte aus New York fragten, was tun.

Colombi sagt, die Direktion des Krankenhauses sei nach Hause gegangen, aber die Mediziner arbeiteten durch. Pensionierte Ärzte und junge Kolleginnen, die weggezogen waren, kehrten zurück. Und arbeiteten auch krank weiter, wie selbstverständlich.

Zwölf Prozent der Covid-Infizierten in Italien arbeiten im Gesundheitswesen. Colombi selbst hat sich bisher noch nicht mit dem Virus angesteckt.

Hier kennt jeder jemanden, der an Covid starb

Am 14. März tritt halb Italien auf die Balkone, um dem medizinischen Personal zu applaudieren.

Am 18. März kommen 110 Covid-19-Patienten in Colombis Notaufnahme. In der Nacht verlässt ein Militärkonvoi mit Leichen den Friedhof von Bergamo. Sie fanden dort keinen Platz mehr. Die Fallsterblichkeit ist in der Region zu diesem Zeitpunkt so hoch wie nirgends auf der Welt.

In der Lombardei kennt jeder jemanden, der dem Virus erlegen ist. Noch im Sommer, im Herbst und im Winter erst recht wirkt Bergamo wie ein Ort unter einer Glocke. Alle tragen seit einem Jahr Masken und greifen in regelmäßigen Abständen nach den Desinfektionsfläschchen in ihren Taschen.

Am 25. März erschien im New England Journal of Medicine ein Brief, den auch der Notarzt Pietro Brambillasca unterzeichnet hatte. Der erste Satz lautete: „In Bergamo ist die Epidemie außer Kontrolle.“ Die Mediziner forderten radikale Reformen: weg vom System der gewinn­orientierten Privatbehandlung in Kliniken, die auf Altersleiden spezialisiert sind, hin zu einem flächendeckenden, sozial und epidemiologisch tragfähigen Gesundheitsnetz.

„Die Menschen sind müde“

Seit Ausbruch der Pandemie sind in Italien 310 Ärztinnen und Ärzte an Covid-19 gestorben, viele von jenen, die schon in Rente waren und zu Hilfe eilten. Laut dem italienischen Berufsverband sind 71 Krankenpflegerinnen und -pfleger gestorben. Vier nahmen sich das Leben. Zuletzt, im Dezember, ein 37 Jahre junger Pfleger im Waschraum einer lombardischen Corona-Intensivstation. Er hatte zuvor wie viele andere über Stress und Depressionen geklagt.

Renata Colombi arbeitet immer weiter. Das helfe ihr auch, sagt sie. Und dass sie gar nicht sehen wolle, wie die Bars und Lokale sich füllen: „Ich merke ja die Auswirkungen.“ Aber Politikerin wolle sie jetzt auch nicht sein. „Die Menschen“, sagt Colombi, „sind müde.“

Abends kommt sie nach 12, 14 Stunden Arbeit nach Hause. Duscht, isst und trinkt ein, zwei und vielleicht auch drei Gläser Rotwein. Sie schmust mit ihren Katzen und beantwortet vor dem Einschlafen noch Nachrichten von Freundinnen und Freundesfreunden. Vor einem Jahr antwortete sie auch all den Verzweifelten, die keinen Arzt erreichen konnten und nicht wussten, was tun. Die Hotlines und Hausärzte waren überlastet, und manch ein Arzt war selbst erkrankt und gestorben.

Und die Alpen leuchten

Morgens gibt Renata Colombi ihrer Mutter Aufträge für den Tag: Mach den Garten, guck Nachrichten, koch Lasagne! Sonst dreht die alte Frau allein zu Hause durch. Ein Jahr Lebenszeit, sage die Mutter, sei ihr genommen worden. Ein Jahr Zeit, sagt Colombi, die gegen Ende des Lebens noch schwerer wiegt.

Renata Colombi ist ein Mensch, der nicht nur die Ärmel hochkrempeln kann, Tag für Tag und Welle für Welle, sondern trotz allem auch das Gute sehen will. „Vier und vielleicht sogar sechs neue Ärztinnen und Ärzte hat Corona uns für die Station geschenkt“, sagt sie, „und ein paar neue Geräte.“ Mittel zum Überleben, die bis vor einem Jahr nicht bewilligt worden waren.

Und wenn sie mit dem Roller nach Hause fährt, leuchten hinter der stillen Stadt die schneebedeckten Gipfel der Alpen. Eines Tages, sagt Renata Colombi, werden wir uns daran erinnern, wie schön das aussah, im Lockdown. Als die Welt den Atem anhielt.

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