Jeden Abend um Punkt neun

Weit über 1.000 satirisch-scherzhafte Strophengedichte hat der unübertroffene Meister im Aufbau eines Spannungsbogens hinterlassen. Vor 90 Jahren starb der Varieté-Humorist Otto Reutter

Otto Reutter und die Tänzerin Dund Saharet Foto: Foto: Originalaufnahme von 1907 von Rudolph Duehrkoop/ullstein bild

Von Bettina Müller

Es knistert und es rauscht. Abrupt setzt das blecherne Orchester ein und Otto Reutter singt in borniertem Tonfall sein Couplet „Immer korrekt“ aus dem Jahr 1910. Es ist auf einer historischen Schallplatten-Tonaufnahme verewigt worden, die man sich auch auf Youtube (www.youtube.com/watch?v=J34cNI12du8&t=2s) anhören kann. Sehr treffend gerät seine Parodie auf die Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg, die dem Preußentum huldigt, in der der Adel tun und lassen kann, was er will, und in der sogar die Eisenbahnspeisewagen nach Klassen unterschieden werden. Die dritte Klasse hat eben Pech gehabt, als „niedere Rasse“ wird sie kurzerhand mit den Essensresten der Hautevolee gefüttert. Wahrlich ein trauriger, wie Reutter weiter singt, „Kern, der im Preußen drin steckt“.

Die Couplets sind die Meisterwerke des selbst ernannten Humoristen Otto Reutter, der seinen Beruf bei seiner zweiten Heirat 1919 mit Marie Bendrien auf dem Berliner Standesamt selber so angeben wird. Die Pfeile des Spotts federleicht und treffend zugleich abzuschießen, dafür bedarf es eines hohen Maßes an Beobachtungsgabe, Talent und Keckheit. Weit über 1.000 solcher satirisch-scherzhafter Strophengedichte hat Reutter hinterlassen.

Bei seinen Auftritten auf den Varietébühnen entpuppte er sich dabei als unübertroffener Meister im Aufbau eines Spannungsbogens, der gegen Ende noch einmal in einer messerscharfen Pointe kulminierte. Und auch in seinem „korrekten“ Preußenspottlied nahm er völlig unvermittelt einen schneidigen Kasernenhofton mit rollendem r an. Das Ergebnis: volle Häuser, Menschen, die nach seinem Gesang vor Lachen fast vom Stuhl fielen, während des Maestros Kulleraugen vor Freude strahlten.

Dabei hatte alles etwas schleppend angefangen. Mit dem Geburtsnamen Friedrich Otto August Pfützenreuter kann man nur schwerlich als Don Juan die Herzen des Publikums erobern. Der 1870 in Gardelegen in der Altmark geborene Kaufmannssohn war aber nun mal dem dramatischen Bühnenfach zugetan: „Wollt’ zum Theater. Krach mit dem Vater. Kaufmann gelernt. Heimlich entfernt“. Otto suchte das Weite, wurde vom Vater wieder heimgeholt, es folgte mehrmals dasselbe Spiel, bis er 19 Jahre alt war und man nicht mehr über ihn bestimmen konnte. Also ging es auf nach Berlin, wo er mal hier Kulissen schob und dort als Statist mitwirkte.

Doch ein bierernster Otto Normalverbraucher – Tucholsky beschrieb ihn einmal als „ein dicker, gewöhnlich aussehender Mann“ und als „schlecht rasierten Droschkenkutscher mit Stielaugen“ –, der wollte nicht gefallen, und man ermunterte den jungen Mann, mal etwas Heiteres zu dichten. Otto schaltete also den Knopf um, denn mittlerweile hatte er verstanden, dass man ihm den bierernsten Barden nicht abnahm: „Die ernste Muse verließ ich alsdann, Bei der heiteren klopfte ich schüchtern an. Jetzt schien am Ziel ich, Denn jetzt gefiel ich, Kriegte viel Geld. – Komische Welt.“

Als Otto Reuter – noch mit einem „t“ im Namen – trat er 1895 ganz alleine auf einer Bühne in Bern auf, das Publikum schwelgte in Hilarität, ein fulminanter Erfolg. Ein Jahr später heiratete er die Balletttänzerin Olga Nock, ein Jahr später wurde sein Sohn Otto geboren.

Weil sich in Bern auch ein Theateragent aus Berlin vor Lachen gebogen hatte, rissen sich schon bald deutsche Varietébühnen um ihn und schon bald konnte er – nach einem Rechtsstreit mit einem Künstler namens Martin Reuter nun als Otto Reutter – in Berlin auf der Bühne schmettern: „Jeden Abend um Punkt neun, Muß ich furchtbar lustig sein“ oder „Ob in Sorgen und Verdruß, Will man denn? Man muß!“. Das Ende vom Couplet: Standing Ovations im Berliner American-Theater und alles grölte begeistert: „Man muß!“

Ab 1899 erhielt Reutter ein dauerhaftes Engagement im Berliner Wintergarten. Der Ursprung dieses Varietétheaters war der Wintergarten des am 1. September 1880 eröffneten Centralhotels an der Friedrichstraße, das seit Herbst 1887 offiziell als Varieté-Veranstaltungsstätte diente, bis es am 21. Juni 1944 im Krieg zerstört wurde. Zufrieden konnte Reutter als neu gekrönter König des Couplets in das neue Jahrhundert tänzeln.

1906 war sein Ruf als „Deutschlands erfolgreichster, produktivster und bestbezahlter Varieté-Humorist“, wie es in einer Werbung in der Zeitschrift Fliegende Blätter hieß, längst gefestigt. Und die Berliner liebten „ihren“ Otto Reutter, dem man schon längst nicht mehr anhörte, dass er aus der Provinz stammte, abgöttisch, und Reutter dankte es ihnen zuverlässig mit Couplets wie „Berlin, Berlin, trotz alle deine Fehler lieb’ ick dir mehr als jede andre Stadt“. Er war einer von ihnen, zumindest klang er so, und er sah auch so aus.

Und wenn der Mann aus dem Volk dann noch in absurden Verkleidungen wie zum Beispiel im Kostüm einer Spreewalddame die Bühne kaperte, sich also zum „Wurstl“ –Tucholsky meinte wohl: zum Deppen – machte, schnappte so manch einer vor Lachen nach Luft: „Er haucht seine Pointen in die Luft, und alles liegt auf dem Bauch.“

„Wollt’ zum Theater. Krach mit dem Vater. Kaufmann gelernt. Heimlich entfernt“

Minimaler Einsatz, größte Wirkung, aber auch höchste Alarmbereitschaft bei der Berliner Polizei. Auf Geheiß kaiserlicher Hüter von Sitte und Moral musste sie Reutters Veranstaltungen besuchen, um mögliche Zensurverstöße zu erlauschen, die der schlaue Reutter dann einfach weghustete. Zuverlässig schallte jedes Mal ein Hust-Echo aus dem nicht minder schlauen Publikum zurück.

Was die gut gelaunten Berliner jedoch nicht ahnen konnten: von der Zensur zur Zäsur war es nicht mehr weit. Nach dem Inferno des Ersten Weltkriegs war ihnen erst einmal das Lachen vergangen. Um die Dämonen der Vergangenheit und auch der Gegenwart zu besiegen, rief die Zeit verstärkt nach beißendem Spott, nach entlarvender Ironie.

Nicht alle Künstler schafften diese Transition oder hatten den Willen dazu und verharrten stattdessen im Altbewährten. Reutter war in seiner Themenauswahl stets flexibel und aktuell gewesen, hatte dabei sein Fähnchen dabei aber auch schon mal stark nach dem Wind gedreht. So trennte ein Spottgedicht à la „Ich bin ein echter deutscher Patriot“ aus dem Jahr 1903 und die Kriegsbegeisterung ab 1914, die in Reutters Durchhalte-Revue namens „Berlin im Krieg“ im Palast-Theater am Zoo mündete, ein ganz großer Schützengraben. Gar grausig klingen heute Zeilen à la „Zur Zeit gibt’s nur einen Reim, Und dieser Reim, der reimt sich auf ‚Krieg‘. Das ist ein Wort – es lautet ‚Sieg‘“.

Der Tod seines Sohnes vor Verdun 1916 machte Reutters von Tucholsky so geschmähten „Radaupatriotismus“ ein Ende, und auch seine Couplets wurden mitunter schwermütig, weil der Kummer nicht mehr ganz so unbeschwert weggelacht werden konnte: „Ich möchte’ erwachen beim Sonnenschein, Und es müßt’ alles wie früher sein.“ Aber nichts war mehr wie früher. Doch was war Reutter ohne die Bühne? Hyperaktiv flüchtete sich der Rastlose genau dorthin wieder zurück und wählte einen neuen Weg: Galgenhumor. Einer Tour durch deutsche Lande verpasste er daher schon mal den Titel „Mir is et ejal!“. Ob das auch hinter den Kulissen so war, konnte das Publikum nicht wissen. Berlin blieb seinem adoptierten Urberliner aus Gardelegen treu, der weiter ulkte und sang, als gäbe es kein Morgen mehr, und auch auf sein jährliches Engagement im Wintergarten, aus dem 30 Jahre wurden, konnte man sich verlassen.

Reutter war erst 60, als der jahrelange Raubbau an seinem Körper seinen Tribut forderte. Am 3. März 1931 erlag er in Düsseldorf einem Herzinfarkt. Kurz zuvor hatte er noch in sein Tagebuch notiert: „Der Mann hat Glück gehabt, so sagen sie. Der Mann war fleißig, sagt man nie.“ Otto Reutter, dem Tucholsky mit „welch ein Könner auf seinem Gebiet!“ das größte Kompliment gemacht hatte, hatte somit ganz bescheiden weitere Eigenschaften unterschlagen: Talent und Witz. Reutters mitunter zeitlose Couplets sind bis heute unverwüstlich. Sehr beliebt sind zum Beispiel die „Otto-Reutter-Abende“ mit dem Schauspieler Walter Plathe, die man nach der Coronapandemie hoffentlich auch wieder auf deutschen Kleinkunstbühnen genießen darf. Die Legende lebt, und auch Reutter ahnte damals schon: „Leute von heute, die lachen lieber.“