Er stirbt in Rom

Philippe Sands hat sich in einer beein­druckenden Recherche auf die Spuren des SS-Offiziers Wächter begeben

Generalgouverneur Hans Frank (l.) verabschiedet den bisherigen Gouverneur des Distrikts Krakau, Otto Wächter, vor dessen Amtsantritt als Gouverneur von Galizien, 1942 Foto: Fo­to:­Samm­lung Berliner Verlag/AKG

Von Klaus Hillenbrand

Ist der ehemalige SS-Offizier Otto Wächter 1949 in Rom ermordet worden? Und waren die mutmaßlichen Täter seine Gesinnungsgenossen oder der sowjetische oder doch der US-Geheimdienst?

Zu diesen Fragen kulmuliert das Werk des britischen Völkerrechtlers Philippe Sands, für das die Bezeichnung „Sachbuch“ nur eine höchst unzureichende Kennzeichnung ist. Schon gar nicht aber handelt es sich bei „Die Rattenlinie“ um einen Roman. Es ist ein Krimi und zugleich eine Auseinandersetzung mit dem Bösen im Menschen, der nicht nur auf wahren Begebenheiten fußt, sondern der streng der Wahrheit verpflichtet ist – und sich gerade deswegen schier unglaublich liest.

Denn Sands lässt den Leser an seiner akribischen Recherche teilhaben, die im heute ukrainische Lwiw, dem früheren Lemberg, beginnt und ihn nach London, Italien, in die USA, nach Polen, in die Ukraine und in ein verfallenes Schloss in Österreich führt.

Dort, auf Schloss Hagenberg, lebt Horst Wächter, der Sohn des SS-Manns, der kaum noch eine Erinnerung an seinen Vater hat, aber einen Schatz historischer Familiendokumente besitzt und von der Unschuld Otto Wächters überzeugt ist. Dabei ist Horst keineswegs ein Neonazi – es ist die Liebe zum Vater, der ihm zu dem Urteil gebracht hat, Otto Wächter, ehemaliger Gouverneur des Distrikts Galizien, sei keineswegs ein Massenmörder gewesen.

Der Großvater des Autors Sands wiederum stammt aus Lemberg, gelegen in genau diesem Distrikt, und große Teile seiner Familie sind im Holocaust ermordet worden, als ebendieser SS-Offizier Wächter dort amtierte.

Philippe Sands: „Die Rattenlinie. Ein Nazi auf der Flucht“. Aus dem Englischen von Thomas Bertram. S. Fischer Verlag, Frankfurt /M. 2020, 544 Seiten, 25 Euro

So beginnt die Suche nach der Schuld eines Mannes aus guten Verhältnissen, in Wien gebürtig, einem Juristen, der sich früh den Nationalsozialisten anschloss, einem Liebling vieler Frauen, sportlich und gut aussehend. 1932 ehelichte er Charlotte, eine selbstbewusste Frau. Zwei Jahre später gehörte Otto zu den Verschwörern des Nazi-Putsches in Österreich. Als der Aufstand scheiterte, floh er nach Berlin, in die Machtzentrale Hitlers. Sein Aufstieg bei der SS begann. Mit dem „Anschluss“ Österreichs kehrte die Familie nach Wien zurück. Otto avancierte zum persönlichen Referenten des Staatskommissars für Personalangelegenheiten. Philippe Sands lässt uns an seinen Besuchen bei Sohn Horst teilhaben, berichtet von Konflikten mit diesem über die Interpretation der historischen Ereignisse und der Rolle seines Vaters. Sands zitiert aus Charlottes Tagebüchern über die „herrliche“ Zeit, schreibt über Briefe und andere Dokumente.

Schritt für Schritt können wir daran teilnehmen, wie sich ein historisches Panoptikum entfaltet, im Mittelpunkt ebendieser Otto Wächter, der 1938/39 fleißig damit befasst war, jüdische oder sonst wie „unzuverlässige“ Beamte aus dem Staatsdienst zu entfernen, bis er 1940 zum Chef der Verwaltung des Bezirks Krakau im besetzten Polen ernannt wurde.

Es ist ein Ringen um Schuld und Unschuld dieses Mannes, das Sands und Horst Wächter sich bieten. Man ahnt, welche Seite recht behalten wird, je mehr der Autor furchtbare Details aus der Dienstzeit Otto Wächters im besetzten Osten zutage fördert. Und doch ist es kein ungleiches Ringen – Sohn Horst wird von Sands in diesem Drama nicht als eine ewig-gestrige Pappfigur missbraucht.

Im Juli 1949, auf der Flucht und in der Hoffnung auf ein Exil in Argentinien, starb ein Mann namens „Reinhardt“, angeblich Schriftsteller, in Rom. Es war Otto Wächter. Über Monate hatte er seine Kontakte spielen lassen, zur katholischen Kirche und seinen Gesinnungsgenossen. Vergeblich: Die Krankheit war überfallartig über ihn gekommen, ohne Vorwarnung oder Erklärung. Es war Gift, davon ist sein Sohn Horst überzeugt. War es Gift?

Dort, auf Schloss Hagenberg, lebt Horst Wächter, der Sohn des SS-Manns

Dafür spricht wenig. Aber Philippe Sands ist kein Autor, der sich mit begründeten Vermutungen zufrieden gibt. Er will der Sache auf den Grund gehen, und wenn es sein muss, mit der Exhumierung der Knochen aus dem Grab.

Sands recherchiert über die „Rattenlinie“, jener Verschwörung, die Nazis nach dem Krieg zur Flucht verhalf, er untersucht die Politik des US-Geheimdienstes CIC, fragt die Kinder von Augenzeugen, wühlt sich durch Archivbestände und wird bei der katholischen Kirche in Rom vorstellig. Er dreht fast jeden Stein um und kommt der Wahrheit immer näher.

Das Ergebnis dieser Recherche soll hier nicht vorweggenommen werden.