berliner szenen
: Manchmal bau ich eine Stellung auf

Die meiste Zeit verbringe ich seit November mit Schach. Gucken und Spielen im Internet. Ein Paradies. Im Grunde genommen aber auch die Hölle. Was ist besser? Schach oder Basketball, fragt ein Subscriber auf dem Twitch-Kanal von Grandmaster Hikaru. Hikaru lacht. „Natürlich ist Schach besser als Basketball, Basketball ist vielleicht 200 Jahre alt, Schach ist älter als 2.000 Jahre.“

Ich bin älter als GM Hikaru Nakamura. Vor 20 Jahren hatte ich seinen Namen zum ersten Mal gelesen. In der Mittagspause des alljährlichen Presse-Fußballturniers in der Deutschlandhalle. Es hatte Erbsensuppe mit Würstchen und Bier gegeben. In der Frankfurter Rundschau war in einem langen Artikel von der jüngsten Generation amerikanischer Schachspieler und eben auch Hikaru Nakamura berichtet worden. Ich hatte mir das Leben der jungen Schachspieler vorgestellt, und draußen hatte es geschneit.

In den Kisten unter meinem Bett suche ich nach einem alten Tagebuch, in dem ich ein Spiel mit einem Schulfreund aus den 1980er Jahren notiert hatte. Oft war Sommer, und er war so enthusiastisch und immer mit seinem (besseren) Brett und seiner Schachuhr vorbeigekommen und hatte auch durchgesetzt, dass wir unsere Partien wie die richtigen Schachspieler immer notieren mussten. Er war ein bisschen besser als ich und und hatte oft theatralisch „superior!“ gerufen, wenn ich auf eine billige Falle hereingefallen war. Gegen Ende der Schulzeit hatte er sich das Leben genommen; ich erbte sein Schachspiel, es liegt immer griffbereit, ich benutze es aber nur selten. Der Einzige seit vielen Jahren, mit dem ich offline Schach spiele, ist M., der vor mir, glaube ich, nur mit seinem Bruder gespielt hatte – in den 1960er Jahren.

Nur manchmal bau ich eine Stellung auf, um zu gucken, wie es im echten Leben aussieht. Detlef Kuhlbrodt