Epigenetik

Die Epigenetik ist ein Fachgebiet der Biologie. Sie untersucht, welche Faktoren die Aktivität oder Inaktivität des Genoms – also des Codes unserer DNA – festlegen. Das können sowohl äußere als auch innere Einflüsse sein, etwa mentale Gesundheit, Ernährung oder Stress.

Einer der meisterforschten epigenetischen Prozesse ist die DNA-Methylierung. Dabei fungieren sogenannte Methylgruppen als An- und Ausschalter der Gene. Sie bestehen aus Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen und können entweder vom Körper selbst produziert oder durch Nahrung aufgenommen werden. Spinat, Kohl, Spargel, Eigelb und Walnüsse enthalten zum Beispiel viele Komponenten, die epigenetische Prozesse beeinflussen und so unsere Genome regulieren.

Weil nicht all unsere Zellen und Gene zur gleichen Zeit aktiv sein sollen. Jede Zelle hat ihre eigene Funktion, bei einer Nervenzelle müssen andere Gene aktiviert werden als bei einer Hautzelle. Dank der epigenetischen Faktoren können sich die Zellen zur richtigen Zeit am richtigen Ort entfalten – die Gene, die etwa für unser Wachstum zuständig sind, müssen ja auch mal wieder abgeschaltet werden. Sonst würden wir endlos weiterwachsen.

VonSabina Zollner

Von Aristoteles bis heute

Schon Aristoteles sprach im 4. Jahrhundert v. Chr. von einer „Epigenese“. In seinem Werk „Die Entstehung der Tiere“ beobachtete der griechische Philosoph Hühnerembryos und stellte fest, dass diese nicht einfach nur Minilebewesen sind, deren Miniorgane immer größer und größer werden, sondern dass Embryos Organismen sind, die sich weiterentwickeln und mit der Zeit immer komplexer werden. Diesen Prozess nannte er Epigenese.

Aufgegriffen wurde das erst wieder im 17. und 18. Jahrhundert von Jean-Baptiste de Lamarck. Er war einer der Ersten, die davon sprachen, dass sich Lebewesen an ihre Umwelt anpassen und diese Eigenschaften an nachfolgende Generationen weitergeben. Damit widersprach er dem berühmten Naturforscher Charles Darwin. Der betrachtete nur die Gene als darüber entscheidend, was an nachfolgende Generationen weitergegeben wird.

In der Wissenschaft gewann die Epigenetik aber erst in den 40er Jahren so richtig an Bedeutung. Der Genetiker Conrad Waddington war der Erste, der die Genetik und die Entwicklungstheorie zusammenbringen wollte. So verwendete er erstmals den Begriff der „Epigenetik“, zusammengesetzt aus „Epigenese“ und „Genetik“. Waddington wollte heraus­finden, wie die Gene eines Menschen mit seinen Eigenschaften zusammenhängen. Auch er war seiner Zeit weit vo­raus: So stellte Waddington die Hypothese auf, dass sich bei der Entwicklung der ­Embryos verschiedene Gene einschalten. Das war für die damalige Zeit revolutionär, da die DNA noch gar nicht entdeckt war.

In den 60er Jahren entdeckte der französische Biologe Jacques Monod, dass die DNA Auslöser bestimmter biochemischer Prozesse ist und somit die Entwicklung einzelner Zellen steuert. Danach wurde es um die Erforschung der Epigenetik wieder etwas ruhig, auch weil der Fokus nun hauptsächlich auf der Genetik lag. Erst in den 80er Jahren gewann sie durch den Molekularbiologen Robin Holliday wieder an Bedeutung. Er konnte beweisen, dass die DNA nicht nur durch Änderungen ihres Codes mutiert, sondern auch durch die Übertragung von Eigenschaften.

Die Begriffe „Genetik“ und „Epigenetik“ werden oft separat verwendet. Doch die beiden Wissenschaften sind nicht zu trennen: Das Genom braucht das Epigenom, und das Epigenom braucht das Genom.

Der niederländische Hungerwinter

Ein bekanntes Beispiel für die Vererbung von epigenetischen Markierungen ist der Hungerwinter in den Niederlanden während des Zweiten Weltkrieges. Etwa 4,5 Millionen Menschen hatten damals zu wenig zu essen, auch viele schwangere Frauen. Die Mangelernährung führte bei ihnen dazu, dass sich ihre Gene, die für das Wachstum ihrer Kinder zuständig waren, änderten. Als die Kinder geboren waren, wuchsen sie deshalb kleiner heran und benötigten weniger Nahrung. Der Körper der Frauen hatte die Kinder also auf eine Welt vorbereitet, in der es wenig Essen gibt.

Doch nach dem Krieg, als es an Nahrungsmitteln nicht mehr mangelte, aßen die Kinder reichlich. Da ihre Körper auf eine andere Ernährung eingestellt waren, litten sie deshalb vermehrt an Diabetes und Übergewicht. Und nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Kinder, also die Enkelkinder der hungernden Frauen, hatten noch mit diesen Krankheiten zu kämpfen.

Die Ernährung von schwangeren Frauen ist immer wieder Thema in der Epigenetik. Feministische Wis­sen­schaft­le­r:in­nen kritisieren, dass das Frauen unter Druck setze und ihr Körper mehr und mehr fremdbestimmt werde. Auch sehen So­zi­al­wis­sen­schaft­le­r:in­nen die Gefahr der Stigmatisierung benachteiligter Gruppen, die nicht dem allgemeinen Bild der perfekten, gesunden Familie entsprechen.

Die Spuren des Holocaust

Dass Traumata vererbt werden können, belegen nicht nur viele Studien an Mäusen, sondern auch an Menschen. So analysierte etwa das Forschungsteam von Rachel Yehuda, Professorin am Mount Sinai Hospital in New York, die Gene von 32 jüdischen Personen und deren Kindern. Die Teil­neh­me­r:in­nen hatten während des Zweiten Weltkriegs schwere Traumata erlebt. Sie waren entweder in einem Konzentrationslager gefangen, wurden gefoltert oder mussten sich verstecken.

Bei der Analyse der Gene fokussierte sich das Forscherteam auf die epigenetischen Veränderungen eines bestimmten Gens – des Gens FKBP5. Dieses ist für das Stresshormonsystem im Körper verantwortlich und wird oft als „Schlüsselgen“ für Depressionen gesehen. Das Forschungsteam konnte bei den jüdischen Personen epigenetische Veränderungen des Gens FKBP5 feststellen. Um sicherzugehen, dass es der Holocaust war, der das „Stressgen“ verändert hatte, wurden die Daten der Teil­neh­me­r:in­nen mit jüdischen Familien abgeglichen, die sich während des Holocaust außerhalb von Europa befanden. Bei den Kindern der traumatisierten jüdischen Teil­neh­me­r:in­nen sah man ähnliche epigenetische Veränderungen des Stressgens. Die Studie gilt als Beweis dafür, dass Traumata vererbt werden können.

Doch die Ergebnisse sind umstritten: So kritisierten Wissenschaftler:innen, dass die Zahl der Stu­di­en­teil­neh­me­r:in­nen zu klein sei, um Schlüsse aus den Ergebnissen zu ziehen. Andere Wis­sen­schaft­le­r:in­nen sind skeptisch, dass die epigenetischen Veränderungen wirklich auf die Vererbung durch die Eltern zurückzuführen sind.