Surrealistischer Spielfilm auf DVD: Widerwärtigen die Spitze nehmen

Der Film „Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden“ fabuliert mit schwarzem Humor. Inszeniert ist er virtuos und mit viel Effekt.

Ein Mann im Tweedanzug liest vor einem riesigen Mülltütenberg einen Brief.

Der Psychiater Ángel Sanagustin (Ernesto Alterio) steht ungerührt vor Müllbergen Foto: Neue Visionen

„Vorteile des Reisens mit der Bahn“ heißt der Film im Original – und das ist ein böser Witz. Denn Helga (Pilar Castro), die weibliche Heldin, hat sich bei ihrer Zugfahrt gerade gesetzt, da quatscht sie ein seriös wirkender Mann mit weißem Bart direkt an. Arzt sei er, in der Psychiatrie, in der Helga gerade ihren eigenen Mann abgeliefert hat. Letzteres haben wir vom Erzähler aus dem Off eingangs erfahren, die Vorgeschichte kennen wir da noch nicht, wir erfahren sie später, der Erzähler aus dem Off meldet sich aber erst mal nicht wieder.

Denn jetzt erzählt der Arzt eine Geschichte, die so wild wie „obskur“ ist. Letzteres verspricht der deutsche Titel, der wohl auf Buñuels Klassiker „Dieses obskure Objekt der Begierde“ anzuspielen versucht. Das ist okay und legt der Film von Aritz Morena selbst nahe, nicht nur, aber auch, weil er wie der von Buñuel mit einer Zugfahrt beginnt.

Der Arzt erzählt, es ist die erste Geschichte, es werden weitere folgen, nicht weniger wild und obskur, er erzählt also von einem Brief, den er erhielt. Darin berichtet die Verfasserin von ihrem Bruder, der im Jugoslawien­krieg die Leiterin einer Kinderklinik kennenlernt, die sich, um die Klinik zu finanzieren, erst prostituiert, dann, weil das nicht reicht, einzelne Kinder an düstere Hintermänner verkauft.

Fast unmerklich haben die Erzähl­instanzen dabei gewechselt. Erst erzählt die Autorin des Briefs, dann übergibt sie an ihren Bruder, der reicht den Stab an die Ärztin, die an den wichtigsten der Hintermänner übergibt. Der Ton wird immer düsterer, was geschieht, wird immer abs­truser, widerwärtiger und surrealer zugleich. Inszeniert ist es hoch virtuos, mit sehr viel Effekt, mit Filtern und Kamerafahrten, mit präzisen Kadragen, schießt mit Lust auch auf der Ebene der Präsentation über alle Realismen hinaus.

„Die obskuren Geschichten eines Zug­reisenden“ (Spanien 2019, Regie:

Aritz Moreno). Die DVD ist ab rund 12 Euro im Handel erhältlich

Der Humor, so finster er ist, nimmt dem Widerwärtigen die Spitze. Der Ekel bleibt: Weder der Likör noch die Wurst, die der Arzt aus dem Zug bei der Schwester des Manns aus dem Krieg einige Erzählschritte später verspeist, sind, was sie scheinen. Auch die Schwester ist ein anderer, als man denkt. Der Arzt im Übrigen auch.

Die Nase in sehr übelriechende Dinge tunken

Diese Matroschka-puppenhaft verschachtelte Geschichte ist nur der erste Streich. Zwei weitere folgen, die eine davon die Vorgeschichte von Helga, der Heldin im Zug, die Geschichte einer hündischen Liebe oder auch der Hundwerdung in einer mehr als toxischen Beziehung.

Noch einmal und noch einmal tunkt einem Regisseur Morena die Nase in sehr übelriechende Dinge, wieder tut er es auf verschachtelte Weise, sehr bewusst und als Setzung, denn im Grunde geht es so sehr um die Lust am Ekel und Komik erregenden Detail wie um die viel grundsätzlichere Lust am Erzählen und der Fabulation. Der Film schreckt dabei vor wenig zurück, um am Ende den Bogen auf eine Weise zu schließen, die nicht alles, aber doch manches erklärt, das Erklären aber als nicht minder willkürliche Setzung gleichzeitig ad absurdum führt.

Im Absurden ist Aritz Moreno offensichtlich zu Hause. Ein Meister seiner Mittel in diesem Spielfilmdebüt, daran besteht kein Zweifel, selbst wenn man Sinn und Zweck der Veranstaltung etwas skeptischer sieht. Es handelt sich um die Verfilmung eines Romans von Antonio Orejudo, dessen Komplexitäten Moreno sebstbewusst und entschlossen in sehr eigenwillige Bildwelten und erzählerische Reflexionsfiguren überführt.

Für vier Goyas, die spanischen Filmpreise, und für den europäischen Filmpreis (als beste Komödie) war der Film nominiert. Es wird nicht das letzte Mal sein, dass man von diesem Regisseur etwas hört.

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