Streit über Vermietung an NS-Profiteur: NS-Opfer fühlen sich übergangen

Die einst NS-nahe Firma Wintershall zieht in das Gebäude eines künftigen NS-Dokumentationszentrums in Hamburg. Opferverbände protestieren dagegen.

Gleisreste am einstigen Deportationsbahnhof in Hamburg

Heikle Nachbarschaft: Gedenkort Hannoverscher Bahnhof Foto: Christian Charisius

HAMBURG taz | Es könnte eine schwierige Nachbarschaft werden in Hamburgs Hafencity: Ausgerechnet in jenem Gebäude, in das ab 2023 das Dokumentationszentrum „denk.mal Hannoverscher Bahnhof“ ziehen soll, werden auch Büros der Firma Wintershall-Dea entstehen.

Das Pikante daran: Das NS-Dokumentationszentrum wird der von dort deportierten 8.000 Juden, Sinti und Roma gedenken, die aus Norddeutschland in die Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager der deutsch besetzten Gebiete gebracht wurden. Auch wirtschaftliche Ausbeutung und unternehmerischer Profit Hamburger Kaufleute und Firmen werden Thema sein.

15 Jahre lang haben Opferverbände und die „Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen“ dafür gekämpft, dass neben dem Erinnerungsweg an den Gleisresten und Tafeln auf dem einstigen Bahnhofsvorplatz dieses Dokumentationszentrum entsteht.

Es soll im Erdgeschoss eines Bürogebäudes seinen Ort finden, das der private Investor Harm Müller-Spreer gebaut und nun vermietet hat. Die oberen Etagen werden ab 2022, wie vor einigen Tagen öffentlich wurde, von der Wintershall-Dea genutzt, deren Vorgänger dem NS-Regime eng verbunden waren.

Wintershall profitierte vom Kriegsgeschäft

„Die Firma Wintershall war im Nationalsozialismus Teil der Aufrüstungs- und Kriegsführungspolitik und beteiligte sich an der Ausplünderung der von Deutschland okkupierten Länder“, schreibt die Stiftung Hamburger Gedenkstätten. „Dabei profitierte sie in großem Umfang durch die Expansion des Kaligeschäfts und der Erdölproduktion, wobei mit fortschreitendem Kriegsverlauf zunehmend Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter zum Einsatz kamen“, heißt es weiter.

Zudem sei in enger Kooperation mit dem NS-Regime heimlich Munition in stillgelegten Kalischächten gelagert worden, womit Wintershall gegen den Versailler Vertrag verstieß. 1936 wurde die Firma offiziell als Rüstungsbetrieb eingestuft.

Auch der damalige Vorstandsvorsitzende August Rosterg habe sich dem NS-Regime angedient und die Entfesselung der Märkte, die Ausschaltung der Gewerkschaften und einen diktatorischen Staat propagiert, schreibt der Historiker Ingo Köhler. Rosterg sei ökonomischer Opportunist und Profiteur gewesen. Er habe sich massiv an der „Arisierung“ des Bergbausektors beteiligt und sich an jüdischem Eigentum bereichert.

Auch der Deutschen Erdöl AG (Dea) – seit einem Jahr mit Wintershall fusioniert – gewährte das NS-Regime millionenschwere Zuschüsse zur Erdölförderung. Dea baute damit die in Hamburg ansässigen Unternehmen aus und ließ Häftlingskommandos für sich arbeiten.

Die Vergangenheit spät aufgearbeitet

Nun hat das Unternehmen Wintershall seine NS-Vergangenheit zwar – wenn auch spät – 2019 in einer Konferenz sowie in der im September 2020 erschienenen Dokumentation „Expansion um jeden Preis“ erforscht, erstellt von namhaften Historikern. Auch die Aufarbeitung der seit 2019 zu Wintershall gehörenden Dea sei in Auftrag gegeben worden, sagt der Pressesprecher. Und das Unternehmen bleibt engagiert: 2018 hat die Firma in Hessen die Initiative „Offen für Vielfalt – Geschlossen gegen Ausgrenzung“ gegründet.

Trotzdem sind die Opferverbände – Hamburgs jüdische Gemeinden, das Auschwitz-Komitee, die Rom- und Cinti-Union, der Landesverein der Sinti in Hamburg sowie die Stiftung Hamburger Gedenkstätten – befremdet, weil man im Vorfeld nicht mit ihnen sprach. Denn in der 2019 zwischen der Kulturbehörde und dem Investor geschlossenen Vereinbarung für eine 200-jährige städtische Dauernutzung des Erdgeschosses steht: „Der Eigentümer verpflichtet sich, das Gebäude nicht selbst oder durch Dritte in einer Weise zu nutzen oder nutzen zu lassen, die in der öffentlichen Wahrnehmung und insbesondere in der Wahrnehmung der Opfer des Nationalsozialismus und ihrer Interessenorganisationen im Konflikt mit dem Zweck des Dokumentationszentrums steht oder der Ausstrahlung eines Gedenkortes abträglich ist.“

Der Bauherr Harm Müller-Spreer findet, dass er das bei der Vermietung berücksichtigt habe. Denn eine verpflichtende Vorabsprache stehe nicht im Vertrag. „Im Übrigen habe ich es so verstanden, dass es genügt, wenn ich nicht an die AfD oder Organisationen mit rechter Gesinnung vermiete.“ Außerdem habe sich Wintershall zur seiner Vergangenheit bekannt und sie aufgearbeitet. „Deshalb habe ich keine Schwierigkeit gesehen“, sagt Müller-Spreer. „Aber vielleicht ist das Problem in seiner inhaltlichen Tiefe etwas zu kurz gekommen“, räumt er später ein. Sicherlich gebe es Gesprächsbedarf.

Auch Wintershall-Chef Mario Mehren hat – allerdings erst Tage nach Presseberichten über die erfolgte Vermietung – an die Stiftung Hamburger Gedenkstätten geschrieben und sein Verantwortungsbewusstsein betont. Sein Pressesprecher ergänzt, dass die geplante Nachbarschaft sogar „eine Chance bietet. Sei es etwa durch gemeinsame Veranstaltungen oder Kooperationen, die die Verantwortung von Unternehmen in den Fokus nimmt.“

Zumutung für Opferverbände

Die Opferverbände überzeugen solche Ideen nicht. „Wir fühlen uns überfahren“, sagt Rudko Kawczynski, Vorsitzender der Hamburger Rom- und Cinti-Union. „Es ist unzumutbar, dass ein Überlebender beim Besuch des Dokumentationszentrums ertragen muss, dass im Obergeschoss eine Firma sitzt, die letztlich mit verantwortlich für den Tod von Angehörigen seines Volkes ist.“

Durch die räumliche Nähe des ehemaligen Ortes der Deportationen zum Mieter Wintershall Dea könnten bei ehemals Verfolgten und deren Nachfahren bei einem Besuch Traumata berührt werden, warnt auch Oliver von Wrochem, Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und Projektleiter für das geplante Dokumentationszentrum denk.mal Hannoverscher Bahnhof in der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte. „Man setzt diese Menschen möglichen negativen Erinnerungen aus, mit denen man an einem Ort, der den Opfern gewidmet ist, nur schwer umgehen kann.“

Es herrsche große Frustration bei all jenen, die sich seit vielen Jahren für den Gedenkort eingesetzt hätten, vor vollendete Tatsachen gestellt worden zu sein und jetzt etwas kommentieren zu müssen, von dem man dachte, dass es gar nicht einträte, sagt von Wrochem. Wobei er niemandem eine böse Absicht unterstelle – nur Unaufmerksamkeit.

Das Auschwitz-Komitee urteilt härter: „Nach dem anhaltenden Skandal um die ehemalige Hamburger Gestapo-Zentrale Stadthaus hier nun der nächste Skandal geschichtsvergessener Stadtpolitik: Die Hamburger Dokumentationsstätte für die Opfer der Shoah wird sich in einem Gebäude befinden, in dem eine NS-Täterfirma ihren Firmensitz haben wird, die eine Tochterfirma des IG-Farben-Nachfolgekonzerns BASF ist“, heißt es in einem ­Schreiben.

Es sei ihr unbegreiflich, warum Wintershall-Dea genau in dieses Gebäude ziehen müsse, sagt auch Cornelia Kerth von der Vereinigung der Verfolgten des NS-Regimes (VVN-Bda). „Das hat eine besondere Qualität, einen Symbolcharakter“, findet sie. Die Botschaft laute: „Alles ist wieder gut, wir kommen jetzt gut miteinander aus.“ Das sei ganz und gar unangemessen.

Selbst die Kulturbehörde ist irritiert

Selbst die Kulturbehörde ist irritiert, weil sie vorab weder informiert noch einbezogen wurde. Auch dort will man die Sache nicht auf sich beruhen lassen: „Nachdem wir von der Entscheidung des Bauherrn erfahren haben, haben wir umgehend das Gespräch mit den an dem Bau beteiligten Opferverbänden gesucht“, sagt deren Pressesprecher.

Man habe den Bauherrn um Stellungnahme gebeten. Die weiteren Schritte werde die Behörde „auch im Lichte der Antwort eng mit den Opferverbänden, der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte und der Hafencity Hamburg GmbH besprechen“. Die Hafencity Hamburg jedenfalls habe den Bauherrn bereits auf die vertraglichen Regelungen hingewiesen.

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