Drama im Libanon

Nicht erst seit der Explosion im August ist das Land in einer kritischen Situation

Bereits vor der Explosion in der Hauptstadt Beirut betragen die Staatsschulden des Libanon mehr als 80 Milliarden Euro. Die Wirtschaft schrumpft, verstärkt durch die Coronapandemie, und Zehntausende Menschen verlieren ihre Arbeit. Die Währung verliert 80 Prozent ihres Wertes, die Armutsrate steigt innerhalb eines Jahres von 28 auf 55 Prozent 2020. ­Privatbanken und die Zentralbank hatten dem Staat 70 Prozent ihrer Anlagen geliehen. Sie werden nicht in Infrastruktur und das Gemeinwohl gesteckt, sondern das Geld verschwindet in privaten Taschen. Der Internationale Währungsfonds schätzt die Gesamtverluste im Bankensystem auf 49 Milliarden US-Dollar. Es droht ein Staatsbankrott.

Die Finanzkrise ist das Resultat der neoliberalen Politik nach dem Ende des Krieges von 1975 bis 1990, in dem sich verschiedene Parteien in unterschiedlichen Allianzen mit ausländischer Hilfe bekämpften. Ebenso dauerte der Wiederaufbau 15 Jahre. 1990 flossen Milliarden Dollar aus westlichen und Golfländern sowie von der großen libanesischen Diaspora ins Land. Die Banken gewährten zweistellige Zinsen und zogen auf diese Art viele An­le­ger*in­nen an. Viele gut ausgebildete Li­ba­nes*in­nen – Aka­de­mi­ker*in­nen, In­ge­nieur*in­nen, Künst­ler*in­nen – kehrten für den Wiederaufbau zurück.

Auch die Kunst- und Kulturszene wuchs und wurde wieder lebendig, die Musik- und Fernsehproduktion lief an. Doch staatliche Investitionen beschränkten sich auf das Finanzwesen und den Immobilienmarkt. 1993 wurde das Kulturministerium eingerichtet, das zwar Zuschüsse zu Produktionen gewährt – Kulturschaffende berichten aber, dass es schwer ist, an diese Gelder zu kommen, und Künst­ler*in­nen jahrelang auf die Auszahlung warten. Hinzu kommt, dass Kunst- oder Kulturprodukte sowie Manuskripte für Theateraufführungen durch das Zensurbüro der Sicherheitsbehörden müssen. Dort können sie vollständig abgelehnt werden.

Mit dem Beginn des Krieges im Nachbarland Syrien kamen viele Geflüchtete ins Land, darunter auch namhafte Thea­ter­macher[*]innen. Die alternative Szene prägten syrische, palästinensische, armenische und libanesische Künstler*innen mit ihren Perspektiven und Ideen. Vor der Krise trug die Zivilgesellschaft zahlreiche Theaterproduktionen, Gruppen, Kollektive und Theaterräume. Doch die Theaterszene beruht hauptsächlich auf Einzelinitiativen, die mit ausländischen Geldern und nur wenig Unterstützung durch staatliche Stellen arbeiten.

Federführend für Investitionen und den Aufbau des Staates war der Milliardär und Ministerpräsident Rafik Hariri, der 2005 ermordet wurde. Sein Sohn Saad Hariri war Ministerpräsident, als im Oktober 2019 die Menschen in Massen auf die Straße gingen, um gegen die ­Regierung zu protestieren. Er trat zurück – der einzige Erfolg der Protestierenden. Doch ein Jahr später, im Oktober 2020, nahm er den Posten erneut an und versucht seitdem, ein Kabinett zu bilden.

Julia Neumann, Beirut