Arbeit mit Obdachlosen: „Die Leute wollen ihr Leben leben“

Hartmut Schmidt ist trockener Alkoholiker und leitender Sozialarbeiter in einem Kreuzberger Wohnheim, das kranke obdachlose Menschen aufnimmt.

Hartmut Schmidt, Ende 50, hat kurze braune Haare und einen kurzen grauen Bart. Er steht mit verschränkten Armen, in Jeans und einem grauen Pulli, vor dem Kreuzberger Wohnheim, in dem er arbeitet.

Hartmut Schmidt vor dem Siefos-Wohnheim in Kreuzberg Foto: Wolfgang Borrs

taz: Herr Schmidt, in welchem Zustand sind die Menschen, wenn sie in das Wohnheim in der Waldemarstraße einziehen?

Hartmut Schmidt: Die meisten haben nichts weiter als das, was sie auf dem Leibe tragen. Und das sollte man besser sofort vernichten, weil sie in einem extrem verwahrlosten Zustand sind.

Wie kommen sie zu Ihnen?

Wir sind keine Notunterkunft, in die man einfach reinkommt, wenn man keinen Platz zum Schlafen hat. Zu uns werden Leute von den bezirklichen Wohnhilfen oder Krankenhäusern vermittelt, die obdachlos und in besonderer Weise hilfsbedürftig sind.

Der Mensch Schmidt wird 1958 in Flensburg geboren, der Vater ist Verwaltungsangestellter, die Mutter Verkäuferin. In Flensburg macht er Abitur, studiert jahrelang in verschiedenen Universitätsstädten Soziologie, macht aber keinen Abschluss. Als Quereinsteiger fängt er im Herbst 1998 im Berliner Wohn- und Sozialprojekt von Siefos als Praktikant an, wird später fest angestellt. Seit 2003 ist er in dem Wohnheim Leitender Sozialarbeiter. Schmidt ist seit 2000 mit seiner Freundin aus Schulzeiten verheiratet.

Die Alkoholabhängigkeit Schon als Jugendlicher trinkt Hartmut Schmidt ungewöhnlich viel. Als er Abitur macht, ist er abhängig. Auch sein Vater war Alkoholiker und ist an den Folgen gestorben. 1995 macht Schmidt seinen ersten Entzug, im Januar 1997 hat er einen Rückfall. Bei Synanon und anderen Drogentherapieeinrichtungen in Berlin absolviert er eine knapp zweijährige Therapie. Seitdem ist er nüchtern. (plu)

Kein anderes Wohnheim in Berlin nimmt diesen Personenkreis auf. Welche Biografien verbergen sich dahinter?

Bei uns gibt es Leute, die aus ihrer Wohnung geräumt wurden, die nichts geregelt bekommen, denen das Wasser Oberkante Unterlippe steht. Wir haben auch schon Leute aufgenommen, die 25 Jahre am Stück auf der Straße waren. Diese Menschen sind mit ihren Kräften zumeist komplett am Ende. Das Leben auf der Straße ist ungeheuer anstrengend. Wenn wir sie aufnehmen, müssen wir sie regelrecht wieder aufpäppeln. Auch Leute, die studiert haben, wohnen bei uns. Oder Leute, bei denen man denken würde: Donnerwetter, so, wie der angezogen sind, ist er auf dem Weg ins Büro.

Was läuft anders als in anderen Wohnheimen?

In vielen Heimen haben die Bewohner nur einen Ansprechpartner – oft ist der Hausmeister zugleich Sozialarbeiter. Wir sind 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, davon sechs Sozialarbeiter. Der Leitgedanke ist, den Bewohnern ein Zuhause zu geben, einen Platz, an dem sie zur Ruhe kommen können. Aber alles, was wir anbieten, beruht auf Freiwilligkeit. Wenn die Bewohner das möchten, entwerfen wir zusammen einen Plan, wie es weitergehen könnte. Aber das ist kein Muss. Man muss aufpassen, dass man den Leuten nicht das eigene Lebensmodell aufdrückt. Eine eigene Wohnung ist nicht für jeden erstrebenswert, viele wollen das gar nicht.

Was wollen sie denn?

Die Leute wollen ihre Ruhe, sie wollen ihr Leben leben. Es gibt hier einige Bewohner, die gehen morgens aus dem Haus und machen ihr Ding. Ich weiß nicht, was sie im Einzelnen machen und das müssen sie mir auch nicht erzählen. Abends kommen sie zurück und schlafen hier. Oft sind es nur Krankheitsgründe, weshalb sie bei uns einziehen.

Kehren sie dann, sobald es geht, auf die Straße zurück?

Nicht unbedingt. Aber sie wollen ihre Eigenständigkeit behalten. Wir sind ja auch ein bisschen unbequem. Wir achten darauf, dass gewisse hygienische Standards erfüllt werden. Sie müssen ab und zu ihr Zimmer aufräumen, die Kleidung wechseln oder duschen. Im Prinzip sind Sauberkeit und Ordnung Privatsphäre, aber wenn sich abzeichnet, dass der Kammerjäger kommen muss, greifen wir ein.

Gibt es eine verbindliche Hausordnung?

Bei uns ist fast alles ist verhandelbar. Das Einzige, was wirklich gegen die Hausordnung verstößt, ist Gewalt, Gewalt gegen Bewohner und Mitarbeiter. Wenn das passiert, muss man gehen. Auch bei Feuer sind wir sehr empfindlich. Brandstiftungen in irgendeiner Form, Papier anzünden und Ähnliches – das kommt gar nicht so selten vor. Zigaretten anzünden darf man natürlich, aber Kerzen sind verboten.

Trinken im Heim ist erlaubt?

Wir sind eine Einrichtung der Wohnungslosenhilfe, nicht der Suchthilfe. Wir wissen, dass die Leute, die auf der Straße leben, trinken, Drogen nehmen. Oftmals hat sie das in diese Situation geführt. So nehmen wir sie auf und dann dürfen sie hier auch trinken – was aber nicht heißt, dass es erwünscht ist.

Sie arbeiten seit 22 Jahren in diesem Heim. Was macht die ständige Konfrontation mit dem Elend mit Ihnen?

Manchmal ist es schwer, mit dem ganzen Unglück fertig zu werden, das dahinter steckt. Dazu kommen die Gerüche, die Ausscheidungen verschiedenster Art. Die Leute sterben hier ja auch. Sie übergeben sich, sie koten sich ein. Wenn der Pflegedienst nicht helfen kann, weil die Bewohner nicht den entsprechenden Pflegegrad haben, müssen wir sie versorgen. Wenn sich das häuft, ist das manchmal schwierig.

Wie haben Sie das so lange ausgehalten?

Man tauscht sich mit den Kolleginnen und Kollegen aus und stützt sich gegenseitig. Wir sind ein sehr fester Kreis. Als leitender Sozialarbeiter habe ich mit der unmittelbaren Betreuung außerdem nicht mehr viel zu tun. Ich bin für die Belegung unseres Hauses verantwortlich und halte die Außenkontakte zu den Betreuern und Sozialarbeitern in den Ämtern und Krankenhäuser.

Eine bewusste Entscheidung?

Irgendwann war ich an dem Punkt, wo ich gesagt habe, so geht das nicht weiter. Wenn ich nichts ändere, macht mich das kaputt. Man nimmt das mit nach Hause und wird es nicht mehr los, trotz Supervision.

Wie haben Sie mit der Obdachlosenarbeit angefangen?

Das Siefos Wohn- und Sozialprojekt in der Waldemarstraße in Kreuzberg verfügt über 150 Plätze. Nur Menschen, die obdachlos und in besonderer Weise hilfsbedürftig sind, können dort untergebracht werden. Berechtigt ist zudem nur, wer in Deutschland Anspruch auf Sozialleistungen hat. Menschen aus Osteuropa etwa fallen da in der Regel raus. (plu)

Ich bin ein klassischer Quereinsteiger. Ich habe lange Soziologie studiert. Nach diversen Universitätsbesuchen in verschiedenen Städten bin ich nach Flensburg – meine Heimatstadt – zurückgekehrt. Dort habe ich gemerkt, dass mein eigener Alkoholismus, mein eigenes Suchtproblem mir bei allem im Wege steht. Ich hatte alles verloren, Arbeit, Wohnung.

Wie lange waren Sie da schon Alkoholiker?

Schon in der pubertären Zeit habe ich so viel wie möglich getrunken. Damals dachte ich vielleicht, ich bin ein toller Hecht.

Wie haben Ihre Eltern reagiert?

Was das angeht, habe ich ein Erbe angetreten. Als ich 1995 das erste Mal in die Entgiftung ging, hatte sich mein Vater schon totgetrunken. Aber auch danach war die Strategie meiner Familie darauf angelegt, dass sich nichts verändert. Ich glaube, sie wären als Trinker besser mit mir zurechtgekommen. Ich habe meine Familie dann aufgegeben.

Endgültig oder haben Sie inzwischen wieder Kontakt?

Nein. Aus den alten Konflikten gab es kein Entkommen. Mit meiner damaligen Freundin war es anders. Wir sind inzwischen glücklich verheiratet. Nachdem ich 1995 die Entgiftung gemacht hatte, war ich bei den Anonymen Alkoholikern in Flensburg. Eineinhalb Jahre habe ich nüchtern gelebt, aber irgendwann dämmerte mir, nur einfach die Flasche weglassen hilft mir nicht. Ich habe immer gedacht, irgendwann muss doch die Sonne mal wieder aufgehen, aber sie ging nicht auf. Im Januar 1997 wurde ich rückfällig.

Wie kam das?

Ich hatte mir ein, zwei Bier beim Kiosk geholt. Als ich die ausgetrunken hatte, habe ich 20 neue besorgt. Als ich am nächsten Morgen zu mir kam, habe ich zu mir gesagt: nie wieder diese ganze Würdelosigkeit. Du packst sofort deine Sachen und fährst zu Synanon nach Berlin. In den eineinhalb Jahren, die ich nüchtern war, hatte sich bei mir die Idee verfestigt: Wenn ich rückfällig werden sollte, gehe ich in diese Drogentherapieeinrichtung. Ich bin mir sicher: Wäre ich nicht nach Berlin gegangen, es wäre wieder richtig losgegangen. Berlin war die Stadt, in der ich nie getrunken, in der ich keine Verbindung zum Alkohol hatte.

Ich bin extrem dankbar dafür, dass ich nicht mehr trinken muss

In Berlin haben Sie knapp zwei Jahre in Suchthilfeeinrichtungen gelebt. Und dann?

Mir war klar, hier will ich bleiben. Als ich mich wieder in der Lage fühlte zu arbeiten, wurde ich gefragt, ob ich mir zutraue, ein Praktikum in einem Wohnheim für obdachlose Menschen zu machen. So kam ich zu Siefos. Die damalige Geschäftsführerin des Wohnheims hat mir nach dem Praktikum dann einen festen Job angeboten. Meine einzige Bedingung war: Wenn ich das Gefühl habe, dass ich mich in meiner eigenen Sucht gefährde, gehe ich. Aber das war nie der Fall.

Sie haben nie wieder getrunken?

Nein. Ich bin extrem dankbar dafür, dass ich das nicht mehr muss. Aber ich es stört mich nicht, wenn Leute in meiner Gegenwart trinken.

Wie würden Sie sich heute beschreiben?

Die Zeit der Sucht hat natürlich Narben hinterlassen. Ich bin sehr vorsichtig und zurückhaltend. Hier jetzt dieses Interview zu geben, hat mich im Vorfeld stark beschäftigt. Es ist eigentlich das erste Mal seit 20 Jahren, dass ich mich in dieser Form öffentlich äußere.

Meinen Sie nicht, dass andere von Ihren Erfahrungen profitieren können?

Eine ganze Zeit lang habe ich einen großen Antrieb verspürt, von meiner Geschichte zu erzählen. Aber ich habe gemerkt: Den meisten Leuten ist es lieber, man läuft geradeaus. Ich habe das dann sehr schnell gelassen. Meine Triebfeder ist eher, das, was ich mache, gut zu machen. Ich habe so viele Jahre Dinge schlecht gemacht.

Gibt es Personen, die für Sie ein wichtiger Kompass waren?

Ich habe im Laufe der Jahre sehr viele prägende Menschen kennengelernt. Einer der wichtigsten, außer meiner Frau, war ein ehemaliger Pastor. Er hat bei uns im Heim Leute besucht, die früher im Gefängnis waren, und mich gefragt, ob wir hier nicht einen Gottesdienst abhalten können. Viele Jahre haben wir das dann regelmäßig gemacht. Nie in meinem Leben habe ich einen Menschen kennengelernt, der so ein offenes, weites Herz hatte wie dieser Pastor. Das hat uns auch verbunden.

Wie drückt sich das aus?

Jeder Mensch, der hier bei uns als Bewohner angefragt wird, ist willkommen, wenn ein Platz frei ist. Mit allen Marotten und Macken, egal, welche Geschichte er hat

Jeder Mensch, der hier bei uns als Bewohner angefragt wird, ist willkommen, wenn ein Platz frei ist. Mit allen Marotten und Macken, egal, welche Geschichte er hat.

Wie lange kann man hier bleiben?

Solange sie wollen und die Kostenträger dafür bezahlen. Einer, der viele Jahre hier war und dem wir eine Wohnung besorgt haben, ruft immer noch dreimal in der Woche bei mir an: Er habe Langweile. Als er einmal hier zu Besuch war und im Haus jemand fürchterlich schrie, sagte er: Ach Mensch, so was fehlt mir richtig, bei mir passiert doch den ganzen Tag nichts. Der würde sofort wieder bei uns einziehen.

So wohl fühlen sich die Leute hier?

Manche, ja. Manche halten es hier auch nicht aus. Schon in geschlossenen Räumen zu sein, ist für sie unerträglich, und auch, dass wir ihnen manchmal reinreden. Sie hauen sofort wieder ab.

Auch schwere Gebrechen sind für Sie kein Grund, Menschen abzuweisen?

Nein. Wir hatten jetzt einen Fall, wo ein Mann aus einem Wohnheim in Steglitz zu uns gekommen ist. Er hatte Darmkrebs und konnte dort nicht mehr gepflegt werden. Herr Schmidt, ich möchte gerne sterben, aber ich möchte nicht noch in ein Hospiz verlegt werden, hat er gesagt. Wir haben dann alles für ihn organisiert: Pflege und Palliativmedizin, die Ärzte kommen dann ins Haus. Vor wenigen Wochen ist er hier gestorben, wie er es wollte. Seit November hatten wir neun Sterbefälle. Das ist recht viel. Sonst sind es 10 bis 12 im Jahr.

Worauf führen Sie das zurück?

An Corona liegt das nicht. Bisher hatten wir noch keinen Infektionsfall. Unsere Bewohner sind aber zunehmend hinfälliger. Menschen, die auf der Straße leben, haben eine deutlich niedrigere Lebenserwartung. Statistisch gesehen sterben Wohnungslose 23 Jahre früher als Menschen in geregelten Verhältnissen.

Bei Ihnen leben weniger Frauen als Männer, wie kommt das?

Das Verhältnis ist etwa 1 zu 6, ungefähr so ist auch die Statistik bei wohnungslosen Menschen. Frauen sind seltener, aber häufig älter. Sie kommen meist besser zurecht, schließen sich oft irgendwelchen Männern an und wohnen dann bei ihnen.

In einem Heim für Wohnungslose zu leben, ist vermutlich auch schambesetzt, oder?

Für viele Leute ist es eine große Freude, endlich wieder einen Personalausweis zu haben

Für viele Leute ist es eine große Freude, endlich wieder einen Personalausweis zu haben. Das hatten sie oft jahrelang nicht. Manche waren so lange abgetaucht, dass sie beim Landeskriminalamt erkennungsdienstlich behandelt werden müssen, weil es keinen mehr gibt, der ihre Identität bestätigen kann. Trotzdem kann ich mir vorstellen, dass viele Leute nicht von sich aus sagen, dass sie hier wohnen.

Als Siefos das Gebäude in der Waldemarstraße 2004 kaufte, haben Anwohner mächtig Stunk gemacht. Was hatten Ihre Nachbarn gegen das Wohnheim?

Das war eine ähnlich hysterische Auseinandersetzung, wie man sie von Flüchtlingsheimen kennt. Siefos musste damals von Friedrichshain nach Kreuzberg umziehen, weil an unserem alten Standort die O2-Arena gebaut wurde. Wenn die Obdachlosen kämen, könne man die Kinder nicht mehr alleine zur Schule schicken, hieß es. Als wir eingezogen sind, haben wir ein Sorgentelefon eingerichtet. Wir waren darauf eingestellt, Tag und Nacht mit Beschwerden bombardiert zu werden. Aber von dem Tag an war Funkstille. Ab und zu kam ein Anruf: „Einer eurer Bewohner liegt bei mir im Hausflur.“ Wir sind dann sofort hin. Es waren aber immer Fremde. Wir haben uns aber auch um die gekümmert.

Und heute?

Heute kommt manchmal ein Anruf: Wir haben ein paar Handtücher, die würden wir gerne als Spende vorbeibringen. Man lebt in guter Nachbarschaft.

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