Die Nilpferde und die Haselmaus

NATUR Tierfilmer schaden Tieren, hieß es 1973. Zum Glück stimmt das nicht ganz. Kleine Geschichte der Fauna

„Ich mag Filme, für die Menschen Monate damit verbringen, einem Käfer nachzustellen“

JEAN-LUC GODARD

VON HELMUT HÖGE

Der 1922 in Stettin geborene ARD-Tierfilmer Horst Stern („Sterns Stunde“) kaufte sich mal zwei Kolkraben. Hinterher – 1973 – gab er selbstkritisch zu bedenken: „Ich konnte dabei nicht wirklich wissenschaftliche Zwecke für mich in Anspruch nehmen, vielmehr nur meine tiernärrische Neugier auf diese sagenhaft klugen Vögel. Wie ich denn überhaupt sagen muss, dass nicht selten passionierte Tierfreunde, insbesondere Tierfotografen, mehr Schaden in der Tierwelt anrichten als dass ihre Beobachtungen und Bilder ihr nützen.“

Tierfotografen und Tierfilmer – eine Kohorte von Schadensbringern also? Im Jahr 1945 kassierten die Engländer das Schiff „Seeteufel“ des Unterwasserfilmpioniers Hans Hass, weil dieser an „Kriegsmittelforschung“ beteiligt war. 1959 stürzte der Sohn des Frankfurter Zoodirektors beim Tierefilmen und -zählen in Afrika mit seinem zebragestreiften Flugzeug ab. Sein Vater, der Veterinär Bernhard Grzimek, moderierte jahrzehntelang die TV-Kultsendung „Ein Platz für Tiere“. Im Osten tat es ihm der Berliner Zoologe Heinrich Dathe mit seiner beliebten Sendung „Tierpark-Teletreff“ nach.

Seitdem hat sich die Zahl der Tierfotografen und -filmer vertausendfacht. Der berühmteste ist der dafür inzwischen geadelte BBC-„Wildlife“-Moderator David Attenborough. Auf die Frage eines Interviewers, welche Entdeckungen ihn überrascht hätten, antwortete er: „Wenn man mit der Natur zu tun hat, kann man an jedem einzelnen Wochentag einer Überraschung begegnen. Es gibt deren Tausende, zum Beispiel einen Wurm, der nur in den Tränen von Nilpferden lebt.“

Der 68er-Regisseur Jean-Luc Godard hat sich von Attenborough inspirieren lassen und will demnächst ebenfalls einen Tierfilm drehen. Der Zeit-Filmredakteurin Katja Nikodemus gestand er, dass er weder Internet noch Mobilfunk habe und selten fernsehe: „Nur manchmal Tierfilme auf BBC, in denen Menschen Monate damit verbringen, einem Käfer oder einer Haselmaus nachzustellen.“ Was in dem Film passiere, fragte Nikodemus. Es sei „die Geschichte eines Paares, das sich sehr gut versteht. Und das sich besser versteht, sobald es einen Hund hat“, antwortet Godard, der selbst einen Hund hat. Ob auch er und seine Frau sich besser verstünden, seit sie den Hund hätten, will Nikodemus wissen? Godard: „Nun, er tut uns gut.“ Nikodemus: „Weil sie manchmal über den Hund miteinander kommunizieren?“ Godard: „Sehr oft sogar. Sehen Sie, ich brauche wirklich kein Mobiltelefon.“

Die Frankfurter Rundschau fragte kürzlich David Attenborough, ob seine Arbeitsmethoden denen seines Bruders Richard ähneln würden, der Spielfilmregisseur ist. Der Tierfilmer, der alle Biotope dieser Welt außer der Wüste Gobi kennt, antwortete, sie seien „vollkommen verschieden. Er erfindet Geschichten, während ich Geschichten filme.“

Meistens lässt David Attenborough jedoch filmen – und beamt sich hinterher als Erklärer in den Film. Im Jahr 2011 sprach der Mirror vom „Attenborough-Skandal“: Er hatte zugegeben, die im Zoo gefilmte Geburt eines Eisbären in eine Sendung über die arktische Wildnis verlegt zu haben. Attenborough verteidigte nicht nur seinen „Fake“, er gab weitere zu. Die Tierfilme produzierenden Firmenchefs sprangen ihm bei: Seine Methode entspreche den Redaktionsanforderungen, sei „Standard“ bei den „Natural History Programmes“.

Mückentanz im Abendlicht

Ähnliches galt für den ARD-Filmer Heinz Sielmann („Expeditionen ins Tierreich“). Er begann professionell Tiere zu filmen als Soldat für die Wehrmacht auf Kreta, wo er 1945 gefangen genommen und mitsamt seinem Material nach England verschifft wurde. Dort, bei der BBC, entstanden seine ersten größeren Filme, die Rekordzuschauerzahlen erreichten, später machte er beim NRD weiter – und wurde anscheinend steinreich dabei.

Übel zu nehmen ist Sielmann jedenfalls jener dumpfdarwinistische Kommentar zu einem gefilmten Mückenschwarm, der im Abendlicht über einem Teich tanzte: „Sie haben nur ein Interesse: sich zu vermehren!“, raunte Sielmann aus dem Off. Quatsch, so ein „Interesse“ gibt es nicht, schon gar nicht bei Mücken, die lieber „ohne Folgen“ vögeln.

Im Jahr 1939 wurde Sielmann Seefunklehrer der Wehrmacht in Posen, wo man auch den Königsberger Professor Konrad Lorenz als Mediziner hinversetzte, ebenso Joseph Beuys, der dort Sielmanns Seefunkschüler wurde.

In Marcel Beyers Roman „Kaltenburg“ geht es um die Beziehungen zwischen Lorenz, Beuys, dem Zoologen Dathe und Sielmann, die real und filmisch auf der Vogelwarte Rossitten hinter Königsberg ihren Ausgang nahmen. Dieses ornithologische Institut, das seit 1944 Rybatschi heißt, wird noch heute – obwohl in Litauen gelegen – von russischen Wissenschaftlern verwaltet. Ein Großteil seiner Finanzen kommt von der Heinz Sielmann Stiftung, die das Vermögen des 2006 gestorbenen Tierfilmers, der aus Königsberg stammt, in tierschützerische Taten umsetzt. Dazu gehören eine Darwin Forschungsstation auf den Galapagos-Inseln, Vogelschutzstationen in Europa und die Stiftungszentrale bei Duderstadt.

In Berlin haben sich die Naturschützer im Haus der Stiftungen am Checkpoint Charlie eingemietet. 2005 hieß es dort auf einer Pressekonferenz, die Sielmann-Stiftung habe den 3.422 Hektar großen sowjetischen Militärübungsplatz Döberitzer Heide bei Staaken erworben, wo seitdem Wisente, Wildpferde und -ziegen grasen. Dazu kamen 1.055 Hektar Seenlandschaft bei Groß Schauen – inklusive der dort lebenden seltenen Fischotter, Rohrdommeln und Trauerseeschwalben – sowie 2.742 Hektar Braunkohlefolgelandschaft um Wanninchen bei Luckau, 900 Hektar ehemaliges Grenzgebiet im Eichsfeld und 13 Hektar Stauseelandschaft im Glockengraben bei Teistungen.

Auf diesen von den Kommunisten bis 1990 industriell und militärisch genutzten „Ödflächen“ entstehen nun die vom Kapitalismus versprochenen blühenden Landschaften. So wendet sich das einstige Paradies der Werktätigen zu einem „Naturparadies“, wie das Neue Deutschland diese „Projekte“ nennt. Endlich hat ein Tierfilmer mal mehr Nutzen für die Natur gebracht als den Schaden, den seine Beobachtungen ausmachen.

Wolf in der Fotofalle

Vor ein paar Wochen nun gab die Sielmann-Stiftung bekannt, dass sie auch das 12.000 Hektar große Übungsgelände der Roten Armee in der Kyritz-Ruppiner Heide – „Bombodrom“ genannt – übernehme. Naturschützer hatten gegen dessen militärische Nutzung protestiert. „Hier entsteht jetzt eine einzigartige Heide-Naturlandschaft“, erklärte der Geschäftsführer der Stiftung, Michael Spielmann.

„Ein mit Munition hochgradig verseuchtes Gelände soll für die Natur bewahrt werden“, notierte das Neue Deutschland – und erinnerte daran, dass das Areal einst „streckenweise Tag und Nacht unter Dauerbeschuss lag, teilweise wurden heute geächtete Streubomben abgeschossen“, und dass nach Abzug der Russen die Bundeswehr das Gelände übernehmen wollte, aber am Widerstand der Bürger scheiterte.

Ende gut, alles gut also: Schon seien „seltene Vögel wie Wiedehopf, Steinschmätzer und Bachpieper gesichtet worden, ein Wolf tappt von Zeit zu Zeit in die Fotofalle“, sagte der Projektleiter der Sielmann-Stiftung, Lothar Lankow. Um das Gelände zu säubern, „muss pro Quadratmeter mit etwa einem Euro Kosten gerechnet werden. Bei vollständiger Räumung von Minen und Munition wären das bis zu 595 Millionen Euro.“ Es gehört nach wie vor der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Um das Areal kümmern sich vier Revierleiter, fünf Waldarbeiter und ein Feuerwerker, deren Arbeitsplätze die Stiftung mit 320.000 Euro jährlich finanziert, zudem will sie einen Teil des Waldes „ökologisch umbauen“ und Wildtierarten dort ansiedeln.

Etwa zur gleichen Zeit, da dieses neueste „Projekt“ der Sielmann-Stiftung in Brandenburg verhandelt wurde, gab der französische Wissenssoziologe Bruno Latour in einer Rede vor der Berliner Unseld-Stiftung zu bedenken: „Ökologie ist nicht die Wissenschaft von der Natur, sondern das Nachdenken darüber, wie man an erträglichen Orten zusammenleben kann. Ökologie wird nur dann gelingen, wenn sie nicht in einem Wiedereintritt in die Natur – diesem Sammelsurium eng definierter Begriffe – besteht, sondern wenn sie aus ihr herausgelangt.“ Wie – das müsste mal jemand filmen.