Atlas über Frauenrechte: Vermessung der weiblichen Welt

Joni Seagers in den USA gefeierter „Frauenatlas“ liegt nun auf Deutsch vor. Darin zeigen Infografiken, wie es weltweit um die Rechte der Frauen steht.

Frauen stehen in einer Warteschlange

Flüchtlingscampim Sudan: Etwa die Hälfte aller Flüchtlinge auf der Welt sind Frauen Foto: Mohamed Nureldin Abdallah/reuters

Fast zwei Drittel aller An­alpha­be­t:in­nen sind Frauen. „520 Millionen Frauen können dies nicht lesen“, überschreibt die US-amerikanische Geografin Joni Seager ein Kapitel über globalen Analphabetismus. Ein Drittel aller Kinderbräute auf der ganzen Welt lebt in Indien.

Im größten Teil der USA sind Kinderehen legal. Im Bundesstaat Tennessee waren zwischen 2000 und 2015 drei Mädchen erst zehn Jahre alt, als sie verheiratet wurden. Etwa die Hälfte aller Flüchtlinge auf der Welt sind Frauen. An Friedensverhandlungen in Afghanistan haben nur 6 Prozent Frauen teilgenommen. An denen in der Zentralafrikanischen Republik war gar keine beteiligt.

Visualisierte Frauenrechte

Fakten wie diese sind in Seagers „Frauenatlas“ nicht nur aufgeschrieben, sondern vor allem visualisiert: Auf fast 200 Seiten zeigen Karten und Infografiken, wie Frauen weltweit leben. Was Bildung angeht oder Arbeit, was Armut und Besitz betrifft, welche Rechte Frauen in Bezug auf Körperpolitik, Gesundheit oder Reproduktion erkämpft haben: der Atlas nimmt ­umfassend den Status quo der einen Hälfte der Menschheit in den Blick.

Joni Seager: „Der Frauen­atlas“, aus dem Englischen von Renate Weitbrecht und Gabriele Würdinger. Hanser Verlag, München 2020, 208 S., 22 Euro

Zum ersten Mal erschien er 1987 bei Myriad Editions, einem von Frauen geführten Verlag in den USA. Seitdem wurde er immer wieder aktualisiert. Die überfällige deutsche Erstausgabe wurde nun bei Hanser aufgelegt und macht die weltweite strukturelle Ungleichheit von Frauen deutlich, zugleich aber auch die Vielfalt von Erfahrungen.

Denn Seager, die Professorin für Global Studies in Boston ist, läuft gar nicht erst Gefahr, alle Frauen gleich machen zu wollen. Auch zwischen Frauen und entlang der Kategorien von Race, Alter, Klasse und Herkunft, schreibt sie, gibt es große Unterschiede – was gezeigt wird, sofern es die Daten hergeben. In Panama etwa lag die Müttersterblichkeitsrate 2011 bei 70 pro 100.000 Lebendgeburten. Bei indigenen Frauen, die auf dem Land leben, war die Rate zehnmal so hoch.

Auch das Problem, dass der Atlas überwiegend eine binäre Geschlechterordnung reproduziert, thematisiert Seager: Die Daten, auf denen er beruht, die zumeist von den Vereinten Nationen, Wis­sen­schaft­le­r:in­nen und einzelnen Ländern erhoben wurden, geben eine andere Kategorisierung selten her. Es ist eine Vermessung der Welt nach geschlechterpolitischen Vorzeichen, wie sie derzeit sind – und eine bildliche Darstellung von Diskriminierung.

In den USA wurde Seagers „Frauenatlas“ ausgezeichnet und vielfach bejubelt: Als „bahnbrechende, unschätzbare feministische Ressource“, wie die Frauenrechtlerin Gloria Steinem ihn nannte. An einigen Stelle aber erscheint er verkürzt: So wird in einem Kapitel über reproduktive Rechte, in dem es explizit um die Möglichkeit autonomer Entscheidungen von Frauen geht, auf das „Bestandhaltungsniveau“ einer Nation von 2,1 Geburten pro Frau Bezug genommen. Regierungen, schreibt Seager, seien „besorgt“ angesichts sinkender Bevölkerungszahlen. Immigration gelte als der beste Weg, das Niveau zu halten oder zu steigern.

Doch angesichts einer weltweit erstarkenden politischen Rechten, deren Ziel auch die Kontrolle von Frauenkörpern ist und die etwa in Ländern wie den USA oder Polen dabei ist, sichere Schwangerschaftsabbrüche zu erschweren oder unmöglich zu machen, sind das beschönigende Formulierungen.

Nichtsdestotrotz ist der Atlas eine Bereicherung – sowohl für Menschen, die sich mit Geschlechterpolitik beschäftigen, als auch für solche, für die diese Form feministischer Geografie Neuland ist. Die Welt sieht so anders aus, wenn sie auf diese Weise kartiert wird.

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