Corona in Großbritannien: „Major Incident“ in London

Die Zahl von Infizierten steigt explosionsartig. Sadiq Khan, der Bürgermeister der Hauptstadt, verhängt einen besonderen Notstand.

Polizisten auf Pferden reiten in einer fast menschenleeren Straße

Polizisten auf Pferden patrouillieren im fast menschenleeren Finanzdistrikt in London Foto: John Sibley/reuters

LONDON taz | In London sind seit etwa zwei Wochen merklich mehr Krankenwagen als sonst unterwegs. Sie sind überall und sausen, mal mit, mal ohne Blaulicht durch die leeren Straßen. Derzeit verbucht der Londoner Notdienst täglich 8.000 Anrufe.

Großbritannien steckt in einer tiefen Krise. Bereits am Montag hatte der britische Premier Boris Johnson einen Lockdown über das Land verhängt. Die Neuinfizierungen landesweit bewegen sich langsam auf täglich 100.000 Personen zu. Am Freitag waren es 68.053 Personen, die sich mit dem Virus angesteckt hatten und innerhalb der vergangenen sieben Tage 415.408, ein Anstieg um 29,9 Prozent zur Vorwoche. Mit 1.325 war die Zahl der an Covid Verstorbenen am Freitag so hoch wie zuletzt im März.

Nach Angaben des britischen Amts für Statistik (ONS) leiden derzeit insgesamt 1,1 Millionen Menschen im Vereinigten Königreich unter Corona. Die Zahl liegt damit um 35 Prozent höher als während der ersten Welle im April 2020. Es sind so viele Menschen, dass der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan am Freitagmittag schließlich den „Major Incident“-Status für die 9-Millionen-Einwohner-Stadt ausrief. Dieser Notstand greift, wenn die Notdienste so überlastet sind, dass spezielle Maßnahmen getroffen werden müssen wie beispielsweise die Hinzuziehung von Feuerwehr oder Armee.

Etwas Derartiges hat es in London bisher nur nach Ereignissen wie Terrorattentaten oder dem Grenfell-Tower-Inferno gegeben. Über 7.034 an Covid-19 erkrankte Patient*innen müssen derzeit in der Megapolis versorgt werden, 830 davon kamen allein am Donnerstag hinzu.

Volle Krankenhäuser trotz verdoppelter Kapazitäten

Nach Angaben des Londoner Bürgermeisters stieg die Zahl der Patient*innen zwischen dem 30. Dezember und 6. Januar in den Krankenhäusern um 27 Prozent, 908 Personen werden künstlich beatmet. Das ist ein Anstieg um 42 Prozent.

Laut der Londoner Stadtverwaltung haben sich seit dem Beginn der Pandemie im vergangenen März 463.539 Londoner*innen mit Corona infiziert. Die meisten Brit*innen kennen inzwischen Menschen, die an Covid-19 erkrankt oder gestorben sind. 908 Londoner*innen starben allein in den vergangenen drei Tagen. Die Pandemie hat fast allen Straßen und Wohnbezirke erreicht und breitet sich aus.

Nach einer Hochrechnung des britischen statistischen Amtes (ONS), das Schätzungen mit Hilfe eines Rechenmodells erstellt statt nur mit den verzeichneten eigentlichen Werten aus dem britischen Gesundheitssystem, könnte die Rate der Corona-Infizierten in der britischen Landeshauptstadt allein in der Woche vom 27. Dezember bis zum 2. Januar sogar so hoch gewesen sein, dass eine von 30 Personen innerhalb dieser Woche coronapositiv gewesen sein könnte, was 3,56 Prozent von Londons 9-Millionen-Bevölkerung darstellen würde, oder geschätzte 326.000 Menschen.

In anderen Gegenden Großbritanniens, wie den beiden südenglischen Städten Colchester und Ipswich, sind die Krankenhäuser überlaufen, obwohl sie ihre Kapazitäten aufgrund der Pandemie bereits verdoppelt hatten. Auch in Schottland sollen Lockdownmaßnahmen weiter verschärft werden.

Während die Krankenhäuser und Intensivstationen kaum noch Patient*innen aufnehmen können, sind die Straßen Londons wie leergefegt. Die meisten Schulkinder sind zu Hause und lernen online. Nur Kinder mit speziellen Bedürfnissen oder aus Familien, in denen die Erziehungsberechtigten in systemrelevanten Berufen arbeiten, dürfen in die Schule.

Einkäufe und Sport erlaubt

Wer nicht in diesen Bereichen arbeitet, muss zu Hause bleiben. Vor die Tür darf nur, wer Waren für den täglichen Bedarf einkaufen oder sich sportlich betätigen will. Dabei müssen die Brit*innen in ihrem Wohnbezirk bleiben und dürfen niemanden treffen, der nicht zu ihrem Haushalt gehört.

Unterdessen wird weiter versucht, das britische Impfprogramm so schnell wie möglich weiter hochzufahren. Bis jetzt sind im Vereinigten Königreich etwa 1,5 Millionen Menschen geimpft worden. Zu den Impfstoffen von Pfizer/Biontech und Oxford/AstraZeneca hinzu kommt nun auch der Impfstoff von Moderna, der am Freitag seine britische Zulassung erhalten hat.

Großbritannien hat 3 Millionen Dosen extra bestellt und wird nun 10 Millionen insgesamt davon erhalten. Vom Pfizer/Biontech wurden 40 Millionen geordert und vom Oxford-Impfstoff 100 Millionen Dosen, wovon zwei Millionen pro Woche geliefert werden sollen.

Für Erleichterung sorgte die Meldung, dass der Pfizer-Impfstoff auch gegen die ansteckendere Mutation wirkt, die maßgeblich zu der gegenwärtigen Krise in Großbritannien geführt hat. Die Mutation ist 50 bis 70 Prozent ansteckender. Großbritannien beabsichtigt, bis Mitte Februar vier Risikogruppen (Menschen ab 70 Jahren sowie Bewohner*innen von Alten- und Pflegeheimen) in der Bevölkerung durchgeimpft zu haben.

Der Busverkehr auf innerbritischen Strecken (National Express) wird ab kommenden Montag bis voraussichtlich 1. März eingestellt. Menschen, die nach Großbritannien einreisen wollen, benötigen zudem ab Montag einen negativen Coronatest, welcher innerhalb von drei Tagen vor Antritt der Reise ausgestellt worden sein muss.

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