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: Grundschulkinder mit tighten Schedules

Immer mehr Menschen da draußen ziehen ihre Maske nach dem Einkaufen nicht mehr ab. Bei uns baumeln die bunten Selbstgenähten am Haken und stauben ein. Stolze FFP2s zu stolzen Preisen sind im Einsatz. Wir trügen sie noch lieber, wenn Markus Söder sie nicht befehligt hätte. Jede Nachrichtensendung ist ein Ultradowner. Die Lage türmt sich zu immer brutalerem Ernst.

Ins Büro – Einzelzimmer, zum Glück! – gehe ich mittlerweile, um mich zu erholen. Um für zwei Stündchen draußen zu sein aus der Wohnung, in der vier Menschen, davon zwei unter zehn Jahren, tagein, tagaus umeinander sind. Wo lange Vormittage des Heimschulbetriebs motiviert, moderiert, technisch betreut, angeleitet und korrigiert werden müssen. Terminlisten.

Zwei Grundschulkinder mit tighten Schedules. Telefontermine, Online-Meetings, Zettel, Hefte, Bücher. Wir haben zwei Laptops im Haus. Manchmal haben die Kinder parallel Videokonferenz. Dann kann niemand von uns Erwachsenen arbeiten. Wir stehen dann rauchend auf dem Balkon (erwachsenes Nichtraucher-Dasein war früher) und blicken uns stumm in die leeren Pupillen.

Es ruft von drinnen. Wieder ist ein Kind aus der Schalte geflogen. Oder das Mikro funktioniert nicht. Aber was ist das schon? Fast ein Drittel der Klassenkamerad*innen der Kinder taucht überhaupt nie auf bei den Konferenzen.

Nebenher der Job als Elternvertreterin. Mails, Mails, Mails. Telefonate. Mit besorgten Eltern, mit den Lehrer*innen, mit dem Schulleiter. Was jetzt, Schule im Wechselbetrieb ab dem 25.? Ja, nein? Vielleicht. Was, wirklich kein digitaler Unterricht bei der Klassenlehrerin? Nein, will sie nicht, kann sie nicht, kriegt sie nicht hin. Was, der Musiklehrer will einen Test durchführen? Ja, wir kriegen den Test zugemailt, drucken ihn aus, legen ihn dem Kind vor, halten dann den ausgefüllten Zettel vor die Monitorkamera, Screenshot. Aufruhr. Kein Drucker zu Hause, keine Zeit, neben dem Homeoffice einen derart komplexen Prozess abzuwickeln.

Der Musiklehrer verlegt den Test in die Mensa, Präsenzmodus, unter Einhaltung der Abstandsregeln, von der Senatsverwaltung erlaubt. Der Sturm der Entrüstung übersteigt alles zuvor Gewesene. Dann will die Mathelehrerin, dass das Säulendiagramm gescannt und ins Padlet gestellt wird. Die Kinder wissen nicht, wie das geht. Hat niemand mit ihnen geübt. Wir Eltern können das schon.

Zu guter Letzt kommt die Wochenaufgabe für den Sachunterricht. Neues Thema. Geht raus und fotografiert Stolpersteine in eurem Kiez. Lest dazu den Text über die NS-Zeit in Berlin. Mama, was ist deportiert? Mama, was ist Auschwitz? Aaaaaaaaaah.

Nachmittags gehen wir raus, um unsere neue tropische Monstera pertusum abzuholen, brav telefonisch vorbestellt und per Paypal bezahlt. Seitdem der Weihnachtsbaum auf der Straße liegt, halte ich die leere Stelle und das fehlende Grün im Wohnzimmer nicht mehr aus. Die Monstera ist eindrucksvoll, wir lassen über Spotify einen Regenwald-Soundtrack laufen, die Kinder ziehen die Stirnlampen an und gehen gleich auf Expedition. Im Tip lese ich später, dass Zimmerpflanzen gerade ein Comeback erleben. Spießer-Image war gestern, heute regiert der Urban Jungle. Ich bin peinlich berührt und fühle mich als Sklavin der Episteme.

An der Ampel treffen wir eine brasilianische Bekannte. Es sprudelt nur so aus ihr heraus. Ihre Mutter ist in Rio im Krankenhaus gestorben. An Corona. Allein. In den letzten Wochen fehlte ihr die Kraft, ihr Handy zu halten, und das Pflegepersonal hatte keine Zeit dafür. Sie haben also nicht mal mehr telefoniert. Und der Mann mit seinem neuen Job im Urban-Krankenhaus. Er wurde gleich auf die Covid-Station geschickt. Er kommt sehr spät und erschöpft nach Hause. Sie ist den ganzen Tag mit der Tochter allein.

Hey, du 2021, du bist doch mit dem Versprechen auf Besserung angetreten! Halt dich dran!

Kirsten Riesselmann