Neues Buch von Robert Habeck: Mitte und gleichzeitig vorn

Mit neuem Politikstil will Robert Habeck die CDU als politisches Zentrum ablösen – und die Bundesrepublik krisentauglich machen. Kleiner geht’s nicht?

Robert Habeck steht mit einem Headset im Ohr auf einem Industriegelände im Mondschein. Er hat die Hände in den Hosentaschen und blickt in die Ferne.

Er definiert die Mitte neu: Buchautor und Grünen-Co-Vorsitzender Robert Habeck Foto: Dominik Butzmann/laif

Die Idee von Wahlen in einer repräsentativen Demokratie ist es, Macht zu übertragen und Macht übertragen zu bekommen. Während die CDU das seit ihrer Gründung kapiert hat, strengten sich die grünen Milieus lange mächtig an, ja bloß keine politische Macht zu bekommen. So regierte fast immer die CDU, die man dafür schön machtlos beschimpfen konnte. Das hielt man in gewissen Kreisen für progressiv und vollhumanistisch. Dabei ist es oft nur eine verbrämte Variante von gesamtgesellschaftsferner Selbstbezogenheit.

Damit ist Schluss, wie man Robert Habecks jetzt erscheinendem Buch „Von hier an anders“ entnehmen kann. „Gerade progressive Kräfte müssen Macht wollen“, schreibt Habeck. Grünen das Theoriefundament zu liefern für den Paradigmenwechsel der letzten drei Jahre, ist aber nur ein Aspekt. Die zwei Hauptziele des grünen Co-Vorsitzenden sind offensichtlich, eine neue kulturelle Hegemonie über die Betrachtung der Welt durchzusetzen oder zumindest voranzubringen.

Habecks Buch beinhaltet zunächst eine analytische Bestandsaufnahme, um danach einen Politikstil und eine praktische Methode zu skizzieren, mit der die Bundesrepublik und die liberale Demokratie krisentauglicher werden könnten. Es geht dem 1969 geborenen Autor darum, politische Handlungsfähigkeit nach und mit Corona sowie den sich beschleunigenden Veränderungen wiederherzustellen.

Nicht auf Krisen warten

Im Grunde will Habeck die Frage beantworten, die die bundesrepublikanische Führungspartei CDU/CSU nie beantworten musste und nicht beantworten kann, schon gar nicht mit einer Personalie: Wie kann man Mitte und gleichzeitig vorn sein? Also nicht auf Krisen warten und ihnen hinterherzuckeln als Politikmethode, sondern proaktiv agieren, ohne dabei Teile der Gesellschaft sozial und kulturell zurückzulassen. Kleiner geht es für ihn nicht, aber für die Realität gilt dies ja auch.

Habecks zentrale Begriffe sind Macht, Mitte, Mehrheit, Verantwortung und vor allem Anerkennung. Seine Referenzliteratur zeigt sich auf Höhe der Problemlage.

Robert Habeck: „Von hier an anders. Eine politische Skizze.“ Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 384 Seiten, 22 Euro

Mit dem in Wien tätigen Politologen Ivan Krastev erklärt er den Rechtspopulismus in (Ost-)Europa. Mit dem Harvard-Professor Dani Rodrik die hyperglobalisierte Wirtschaft. Mit dem Soziologen Armin Nassehi erschließt er gesellschaftliche Systeme und Bündnisgedanken, mit der Philosophin Isolde Charim das pluralisierte Individuum und seine Bedürfnisse. Mit Hegel die Wichtigkeit gegenseitiger Anerkennung. Und mit Hannah Arendt den Machtbegriff.

Zukunftsfähige Politik

Habeck war viele Jahre Minister und Vizeministerpräsident von Schleswig-Holstein, Spiritus Rector in zwei verschiedenen Dreierbündnissen. Hier, in der politischen Praxis, im Streit mit Bauern, Fischern, Windkraftgegnern, Unternehmern, Lobbyisten, Koalitionspartnern von CDU, SPD, FDP und sicher auch eigenen Leuten, hat er seine Theorie zukunftsfähiger Politik praktisch entwickelt. Mit der er nun ein von grüner Politik geprägtes Jahrzehnt einleiten will. Also ab diesem Herbst und nicht nur für vier, sondern eher für acht Jahre „an der Macht“. Das sagt er nicht. Aber es ergibt sich von selbst.

Im Vergleich zu seinen beiden vorherigen Goodsellern ist das neue Buch lang (380 Seiten), aber auch deutlich tiefer. Wer gegenüber Habeck ein „Dieser Philosoph!“-Vorurteil pflegen will, der darf nun einen langen Mittelteil zu ökonomischer Politik lesen. Darin enthalten: detaillierte Ausführungen zu Dienstleistungssektor, Landwirtschaft, Bildung und europäischer Sicherheitspolitik.

Der Autor arbeitet dabei mit Habecksch’em Pathos, essentieller Teil seines Erfolges. Aber er mutet Teilen der eigenen Partei auch eine Welt voller Komplexität, Widersprüchlichkeit und Selbstkritik zu, mit der man bei grünen Parteitagen immer noch Schwierigkeiten haben kann. Er reduziert Probleme sozialer Ungerechtigkeit nicht auf wirtschaftsliberale Öffnungen. Und hat kulturelle Abwertungserfahrungen im Blick.

Zusammenarbeit mit Annalena Baerbock

Also die Verstrickungen der neuen Mitte, die von den Liberalisierungen und dem Schwinden der Industriegesellschaft profitiert, aber ungern sieht, dass als direkte Folge dafür andere sozial und kulturell nach unten rauschen. Die neue gesamtgesellschaftliche Erzählung resultiert aus der Zusammenarbeit Habecks mit Annalena Baerbock . Sei drei Jahren sind die beiden Grünen-Vorsitzende.

Leute, die sich lange Jahre kulturell als homogene Minderheit außerhalb des Mainstreams gerierten, stehen für Habeck heute im „Zentrum“ des Geschehens. Sie organisieren von dort aus breite gesellschaftliche Bündnisse, mit unterschiedlichen Akteuren, Gewerkschaften und Unternehmen, Klimaaktivisten und Wirtschaft, neuen und alten Mittelschichten.

Das „Zentrum“ der Gesellschaft meint also nicht jene „Mitte“, die von links aus gern als Luschen oder Nazi-Durchwinker beschrieben wird, von liberalkonservativ aus als Kommunisten und weltfremde Moral- und Staatsfetischisten. Die Mitte ist für ihn „das neue Herz einer pulsierenden Demokratie“.

Habecks Ansatz überwindet den Anachronismus „linker“ versus „bürgerlicher“ Mehrheit wie auch die Vorstellung, bundesrepublikanische Politik sei die Entscheidung zwischen zwei ökonomisch orientierten Varianten (mehr Staat oder mehr Markt). Sicher, man kann Habecks Post-Coronavorsorgestaat und die Sozialpolitik im traditionellen Sinne als links bezeichnen, „Hartz IV überwinden“ und Bündnisse mit Gewerkschaften.

Klimapolitik muss dauerhaft mehrheitsfähig sein

Doch wirkliche Klimapolitik kann weder links noch konservativ sein. Sie muss kulturell-normativ zur Basisausstattung bundesdeutscher Politik gehören, soll sie dauerhaft so mehrheitsfähig sein. So wie es die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit immer war und die europäische Einigung bis heute ist.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Das neue gesellschaftliche Zentrum besteht aus pluralisierten Individuen, die nicht den gleichen Denk- und Sprachkatalog teilen. Das aber die harten künftigen Konflikte über die richtige Zukunftspolitik eint. Konflikte, die „im Einvernehmen“ entschieden werden. Entscheidend ist der Weg zur Lösung. Habeck schlägt konkret eine in Baden-Württemberg bereits existierende vierte Politikebene vor: die Konsultative, also beratende Bürgerräte, die die Gesamtgesellschaft repräsentieren.

Sodass am Ende, zum Beispiel, ein Stromtrassengegner oder -befürworter sagen kann: Ich wollte es anders, aber das Verfahren war fair. Zweite Grundlage ist die von Kant und Hegel abgeleitete gegenseitige Anerkennung des und der anderen. Das beinhaltet den Gedanken, dass andere auch recht haben könnten – für Grüne früher hochgradig absurd. Diese neue „Verantwortung für die Breite der Gesellschaft“ (Habeck) gilt – nach meinem Kenntnisstand – auch für liberaldemokratische Unterstützer von Friedrich Merz.

Die liberale Demokratie basiert auf Kompromissen, das Absolute ist ihr Ende. Die Verlierer eines politischen Streits sind und bleiben Teil des Ganzen. Fraglich bleibt nach der Lektüre, wie sich Habecks Methode auf die europäische Ebene übertragen ließe und wie er die sozialökologische Transformation voranbringen will. Aber wenn man einen dialogischen und offenen Prozess vorschlägt, kann man vielleicht auch schlecht gleich das fertige Transformationsprogramm skizzieren.

Gut-Böse-Modus funktioniert nicht

Wie sich am Fall des scheidenden US-Präsidenten Donald Trumps gezeigt hat, ist es eine unzureichende Strategie, gegen Populismus im Gut-Böse-Modus zu polarisieren. Denn der Populismus zieht genau aus dieser Polarisierung seine Wucht und nährt daran seine Wut.

Das Zentrum muss auch deshalb stehen, sagt Habeck, weil nur so die Gesellschaft die illiberalen Angriffe parieren kann. Es geht ihm um ein FÜR, das viele Verschiedene unterstützen können. Für eine Politik, „die durch Veränderung neuen Halt und neues Vertrauen gibt, die Widersprüche aushält und kleiner macht“, braucht es aber mündige Bürger. Bürger, die bereit sind, sich selbst neu zu verorten, um auch, Verzeihung, den eigenen Arsch hochzukriegen.

Das waren in notwendiger Anzahl bisher weder Union- noch Grünen-Wähler.

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