Haushofers letzter Weg

Er war Widerstandskämpfer und Dichter der „Moabiter Sonette“, aber auch Günstling von Rudolf Heß. Ein Audiowalk spürt dem widersprüchlichen Leben von Albrecht Haushofer nach

„Ich habe kein schärferes Bild von ihm bekommen“, sagt Anna Opel, eine der zwei Autorinnen des Audiowalks über Albrecht Haushofer, hier im Bild beim Rundgang auf dem Moabiter Werder mit taz-Redakteur Uwe Rada Foto: Nadja Wohlleben

Von Uwe Rada

Viel Platz war da nicht. Zum Hofgang ging es für die Gefangenen in den sogenannten Spazierhof. Damit sie nicht mit den anderen Häftlingen im Moabiter Zellengefängnis sprechen konnten, war der Spazierhof abgezirkelt. In einem gleichschenkligen Dreieck konnten sie auf und ab gehen. „Im Dreieck springen, dieses Bild für den Ausnahmezustand, kommt daher“, erklärt die Stimme im Kopfhörer. Sie gehört einer der Sprecherinnen im Audiowalk, den Anna Opel und Ruth Johanna Benrath im Auftrag der Gedenkstätte Deutscher Widerstand entwickelt haben. „Spurensuche Albrecht Haushofer“ heißt er und ist ab sofort als Podcast verfügbar.

Wäre Albrecht Haushofer auch im Dreieck gesprungen? Als der ehemalige Diplomat und Günstling von Rudolf Heß, der später den Kontakt zum Widerstand gegen die Nazis gesucht hatte, im Dezember 1944 ins Moabiter Gefängnis in der Lehrter Straße geworfen wurde, waren die Dreiecke bereits abgeschafft. Vielleicht hätte er auch nicht hin- und hertigern müssen, weil er in den dunkelsten Stunden seines Lebens beim Schreiben eine innere Ruhe gefunden hat.

Achtzig Sonette hat Haushofer in Moabit verfasst, nach dem Krieg wurden sie als „Moabiter Sonette“ herausgegeben. Eines davon ist im Audiowalk zu hören: „Von allem Leid, das diesen Bau erfüllt / Ist unter Mauerwerk und Eisengittern / Ein Hauch lebendig, ein geheimes Zittern / Das andrer Seelen tiefe Not enthüllt.“

„In Fesseln“ heißt das Sonett, es ist ein berührendes Zeugnis der Mitmenschlichkeit unter unmenschlichen Bedingungen – und endet mit den Zeilen: „Der Schlaf wird wachen wie das Wachen Traum / Indem ich lausche, spür ich durch die Wände / Das Beben vieler brüderlicher Hände.“

Zellengefängnis Moabit. So ein Erinnerungsort halt. Man hat von ihm gehört, aber was weiß man schon, wenn man danach gefragt wird? Viel übrig geblieben ist auch nicht von der ehemaligen Königlichen Strafanstalt aus dem Jahre 1847, eingerichtet schon nach dem „panoptischen Prinzip“ – von wenigen Punkten aus ließ sich alles überwachen. Heute befindet sich in den Mauern gegenüber dem Hauptbahnhof ein „Geschichtspark“.

Aber erst Haushofer gibt der Geschichte ein Gesicht, wenn die Sprecherin der „Spurensuche“ anmerkt: „Draußen dichter Großstadt­dschungel und hier drinnen Garten und Landschaft. (…) Suchen Sie sich ein Plätzchen. Schauen Sie sich in Ruhe um. Ich bin da, zeige Ihnen den Weg, nehme Sie bei der Hand, wenn wir nach Albrecht Haushofers Spuren suchen. Sterben und Leben. Schreiben – hier am historischen Ort.“

Nach dem Aufenthalt auf dem Gelände des Zellengefängnisses folgt einer der beklemmendsten Momente des knapp anderthalb Stunden langen Spaziergangs. Wir verlassen den Knast am Ausgang Lehrter Straße und folgen Albrecht Haushofer auf seinem letzten Weg. Hat er es gewusst? Oder war er arglos?

Die App „radio apo­ree/miniatures for mobiles“ hat der Medienkünstler Udo Noll entworfen. Mit ihr lassen sich auf einer Karte einzelne Sound-„Miniaturen“ als GPS-Standorte auf einer Karte platzieren. Geht man mit geöffneter App und aktiviertem GPS in den Umkreis einer solchen Miniatur – spielt sie eine Audiodatei ab. Es gibt mittlerweile viele Menschen, die über die Plattform Beiträge, akustische Spazier- und Rundgänge hochgeladen haben. Die App ist klein und im Play Store und Appstore erhältlich.

In Berlin gibt’s neben dem Audiowalk zur Köpenicker Blutwoche (siehe Seite 45) u. a. einen Rundgang zur Geschichte und Gegenwart vietnamesischer Migration in Lichtenberg („Silent Moves“), einen postkolonialen Spaziergang durchs Afrikanische Viertel in Wedding („post/koloniale Metropole“) oder einen Spaziergang über den Neuköllner Markt am Maybachufer („Berlin Maybachufer Market Walks“). (taz)

„Am 22. April abends gegen 22 Uhr lag ich mit mehreren Häftlingen, u. a. mit Professor Albrecht Haushofer in einer Kellerzelle auf unseren Strohsäcken“, berichtet später ein Mithäftling. „Haushofer hatte gerade von seinen mittlerweile allgemein bekannten Sonetten uns verschiedene vorgetragen. Auch hatte er einen Akt aus einem wundervollen Theaterstück uns vorgelesen, das er gerade in den letzten Tagen fertiggestellt hatte. Wir saßen bei einem Kerzenstummel zusammen, als der Kriminalkommissar Albrecht unsere Zelle betrat und Haushofer in sehr freundlichen und verbindlichen Worten aufforderte, nach draußen zu kommen.“

Geahnt wird er es haben, aber er wird auch gehofft haben, dass es anders kommt. Diese Spannung überträgt sich auf die Geschichtsspazierenden, wenn es im Audiowalk heißt: „Haushofer und 15 Mithäftlinge werden in der Nacht von einem Gestapo-Kommando abgeholt. Wir stellen uns das vor, auf Messers Schneide: Werden sie morgen schon frei sein? Oder werden sie in letzter Minute erschossen oder Opfer der Straßenkämpfe? Der Trupp setzt sich in Bewegung und auch wir brechen auf, folgen ihm – mit dem Abstand von 75 Jahren.“

Über die Lehrter Straße geht es zum ULAP-Park, wo heute Obdachlose leben. Vor der Freitreppe werden in der Nacht auf den 23. April 1945 vierzehn Häftlinge, unter ihnen Albrecht Haushofer, erschossen. Einer überlebt und berichtet nach dem Krieg einem Bruder Haushofers von der Ermordung. Gemeinsam gehen sie an den Ort der Hinrichtung. Die Leichen sind noch da.

Es ist dieses gemeinsame Entdecken, sanft und doch schockierend und gleichzeitig nie effekthaschend, das schon Opels und Benraths Audiowalk zu Rosa Luxemburg zu einem besonderen Ereignis gemacht hat. „Spurensuche“ heißt bei den beiden Schriftstellerinnen auch, dem Menschen, dem sie gewidmet ist, ein Stück näher zu kommen, ihn zu verstehen. Wie kam es, dass sich Haushofer, ein Deutschnationaler eigentlich, dem die Weimarer Demokratie fremd war, dem Widerstand gegen Hitler angeschlossen hat? Und warum hat er all die Jahre zuvor als Berater von Außenminister Joachim von Ribbentrop so lange mitgemacht?

Fragen sind das, die den zweiten Teil des Geschichtspfads begleiten. Vom Ort der Hinrichtung geht es unter der ICE-Trasse hindurch zwischen dem Garten des Kanzleramts und dem Neubau des Innenministeriums auf einem fast verwunschenen Pfad Richtung Spree. Hier, im Regierungsviertel, rollte sich das Leben des 1903 geborenen Albrecht Haushofer auf – und bleibt doch ein Geheimnis.

Der Autor beim Audiowalk auf den Spuren eines widersprüchlichen Lebens Foto: Nadja Wohlleben

Als Sohn eines berühmten Geografen studiert er ebenfalls Geografie und Geschichte und tritt 1925 eine Assistenzstelle von Albrecht Penk an, der mit seiner Theorie des „Volks- und Kulturbodens“ dem völkischen Denken auch wissenschaftlich den Boden bereitet hat. Dass er nach 1933 Dozent an der gleichgeschalteten Hochschule für Politik werden kann, hat der Sohn eines jüdischen Großvaters Rudolf Heß zu verdanken, der mit seinem Vater befreundet war. Haushofer wird Berater von Joachim von Ribbentrop, dem späteren Außenminister. „Einwirken durch Mitwirken“ nennen Opel und Benrath den Versuch Haushofers, die Nazis von einer gemäßigten Außenpolitik zu überzeugen.

Hat sich der junge Karrierediplomat überschätzt? Als Heß, der Stellvertreter Hitlers, auf eigene Faust nach England fliegen will, um dort Friedensverhandlungen zu führen, warnt ihn Haushofer. Nach Heß’ Absturz und Verhaftung wird Haushofer von Hitler auf den Obersalzberg zitiert. Nach dem gescheiterten Attentat am 20. Juli 1944 muss Haushofer fliehen. Im Dezember wird er auf einem Heuboden nahe dem elterlichen Hof in den Alpen durch einen Zufall entdeckt. Er hatte vergessen, die Leiter hochzuziehen.

Spätestens nach dem Englandflug von Heß war also Haushofers „Einwirken durch Mitwirken“ gescheitert. Doch die Widersprüchlichkeit seiner Persönlichkeit bleibt. Sie hat Anna Opel dazu gebracht, neben dem Text für den Audioguide ihr Buch „Recherche Haushofer. Annäherung an den Autor der Moabiter Sonette“ zu veröffentlichen. Ausschlaggebend war der Friedhof, auf den Opel von ihrem Moabiter Balkon schauen kann. Auf dem ehemaligen Schulgarten hat Haushofer seine letzte Ruhestätte gefunden. Der Audiowalk endet dort.

Ist Opel, die sich in ihrem Buch als „Individualtouristin der Geschichte“ bezeichnet, Haushofer näher gekommen? „Ich habe kein schärferes Bild von ihm bekommen. Nicht nur im politischen, sondern auch im persönlichen Bereich war er sehr widersprüchlich“, sagt sie. „Aus seinen Briefen spricht schon eine ganz frühe Lebensabkehr. Andererseits war da auch ein zähes Festhalten am Leben, zum Beispiel auf der Flucht nach dem 20. Juli 1944.“ Und hätte Haushofer den Krieg überlebt, hätten sich auch die Alliierten mit seiner Widersprüchlichkeit auseinandersetzen müssen. Auf einer Liste für die Nürnberger Prozesse stand sein Name. Wohl bei wenigen war der Grat zwischen Mittäterschaft und Widerstand so schmal wie beim Autor der Moabiter Sonette.

Audioguide zum Download oder Stream auf der Seite der Gedenkstätte Deutscher Widerstand: www.gdw-berlin.de.

Das Buch „Recherche Haushofer“ ist bei Edition Fototapeta (208 S., 15 €) erschienen.