Das
Dunkelfeld
im
Regenbogen

Auch lesbische Frauen erleben viel antiqueere Gewalt – und zeigen sie selten an: Das ist ein Ergebnis des bundesweit ersten Berichts zu trans- und homophober Gewalt, den der Berliner Senat veröffentlicht hat. Das Monitoring soll künftig alle zwei Jahre mit wechselnden Schwerpunkten erscheinen

Kampf für mehr Sichtbarkeit und gegen Gewalt: Christopher Street Day 2020 in Berlin Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Von Nicole Opitz

Zwei queere Personen waren mit Hunden gegen 17.20 Uhr auf der Barfusstraße auf dem Weg zum Schillerpark im Wedding unterwegs, als ein weißer, angetrunkener Mann mit Hund, den sie vom Sehen kennen, aus einem Haus kam und hinter ihnen herlief. Der Mann, der seinen Hund mit dem Namen ‚Adolf‘ rief, begann sie an der Kreuzung Barfusstraße/Edinburgher Straße zunächst als ‚Scheiß Punks‘ und ‚dreckige Penner‘ zu beleidigen. Auf ihre Antwort, sie in Ruhe zu lassen, wurde er lauter, und seine Beleidigungen wurden sexistisch und LGBTIQ*-feindlich. Als sie weiter in der Edinburgher Straße am Schillerpark entlanggingen und erneut riefen, er solle sie in Ruhe lassen, wurde er immer lauter, lief schneller hinter ihnen her, um sie einzuholen, beleidigte sie weiter und drohte ihnen schließlich Gewalt an. Erst als sie in die Ofener Straße einbogen, hörte der Bedroher auf, sie zu verfolgen, und ging stattdessen weiter am Schillerpark entlang, während er ihnen laute Beleidigungen hinterherschrie. Weitere Passant*innen, welche die Bedrohung mitbekommen haben müssen, unternahmen nichts.“

Das ist ein Eintrag vom 25. November 2020 aus dem Berliner Register. Das vom Senat geförderter Projekt erfasst rechtsextremistische und diskriminierende Vorfälle und vermittelt Gewaltopfern medizinische und psychische Unterstützung.

„Früher waren es aus dem queeren Bereich eher schwule Männer, die Anzeige erstatteten“, sagt Kati Becker. Sie ist die Leiterin des Berliner Registers und hat eine wichtige Veränderung festgestellt: 2019 und 2020 meldeten vermehrt auch queere Frauen Übergriffe. Becker sagt: „Der Senat möchte die Sichtbarkeit von queeren Menschen, die keine schwulen Männer sind, erhöhen. Das gelingt zunehmend.“

Denn queere Frauen, so scheint es, werden im Bereich LGBTIQ* immer noch leicht übersehen. In seinem Koalitionsvertrag hat der rot-rot-grünen Berliner Senat 2016 deshalb festgehalten, dass die Sichtbarkeit von LGBTIQ* gefördert werden soll – insbesondere die von queeren Frauen. Und die Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung unter dem grünen Senator Dirk Behrendt fördert verschiedene Projekte wie das Projekt „Lesbisch*. Sichtbar. Berlin“, bei dem queere Frauen miteinander vernetzt werden.

Ein anderes Projekt des Senats ist die Initiative „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz geschlechtlicher und sexueller Vielfalt“ (IGSV). Sie verfolgt 92 Einzelmaßnahmen, zu denen auch das bundesweit erste Monitoring zu queerfeindlicher Gewalt gehört, das im Dezember 2020 veröffentlicht wurde – mit dem Schwerpunkt lesbenfeindlicher Gewalt. Das Monitoring soll künftig mit wechselnden Schwerpunkten alle zwei Jahre durchgeführt und veröffentlicht werden.

Justizsenator Behrendt will damit nicht nur das Bewusstsein für Gewalt gegen LGBTIQ* stärken, sondern auch Betroffene dazu bringen, Vorfälle zur Anzeige zu bringen: „Berlin hat ein sehr gut ausgebautes System aus Verfolgung bei den Strafverfolgungs- und Ermittlungsbehörden sowie Hilfe bei den Fachberatungsstellen. Der Monitoring-Bericht soll diese Arbeit ergänzen“, heißt es in seinem Pressestatement zur Veröffentlichung des ersten Berichts.

In Berlin ist die Anzeigebereit­­schaft höher als in anderen Bundesländern

Das Monitoring zu trans- und homophober Gewalt wurde durchgeführt von der Camino gGmbH, die praxisnahe Forschungen und Evaluationen erstellt. Dafür wertete Camino auf knapp 230 Seiten polizeiliche Daten aus und führte Interviews, Exper:innengespräche und Diskussionen durch. Ergänzt wird das Monitoring durch Onlinebefragungen, um abschätzen zu können, wie viel queerfeindliche Gewalt tatsächlich ausgeübt wird – denn Polizei, Senat und die LGBTIQ*-Community gehen von einem besonders großen Dunkelfeld in diesem Kriminalitätsbereich aus – also von zahlreichen queerfeindlichen Taten, die nicht angezeigt werden.

Dabei ist die Anzeigebereitschaft in der Hauptstadt im Vergleich zu anderen Bundesländern hoch: Gewalt an queeren Menschen wird hier besonders häufig angezeigt. 2018 gab es in ganz Deutschland 351 Anzeigen wegen antiqueerer Gewalt, davon 255 in Berlin. Das liegt wohl auch daran, dass in keinem anderen Bundesland so aktiv von Politik, der queeren Community, der Staats­anwaltschaft und der Polizei gefordert wird, queerfeindliche Gewalt anzuzeigen.

Das war nicht immer so: Bis 1994 galt im Strafgesetzbuch der Paragraf 175, der sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellte. Bis in die 1990er Jahre hinein war die Verfolgung von queeren Männern durch die Polizei also ganz offiziell erlaubt.

Stolz und Skepsis auf dem CSD Berlin Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Bis heute sitzt die Skepsis gegenüber der Polizei tief – auch in der Berliner LGBTIQ*-Community: Etwa ein Fünftel der für das Monitoring Befragten möchte queerfeindliche Gewalt prinzipiell nicht anzeigen. Und: „Einige Befragte (16 Prozent) sehen auch von einer Anzeige ab, weil sie Angst vor Diskriminierung durch die Polizei haben“, heißt es in der Publikation.

Sebastian Stipp, einer der beiden Ansprechpartner:innen für LSTBI (Lesben, Schwule, bi, trans und inter Personen) bei der Berliner Polizei, versteht die Vorbehalte: „Aber es hat sich eine Menge verändert, seitdem 1992 unsere Dienststelle eingerichtet wurde. Wir sind auf einem guten Weg.“ Die Ansprechpersonen für LSTBI beraten Betroffene queerfeindlicher Straftaten, nehmen Anzeigen auf und bilden gemeinsam mit Opferhilfeorganisationen Polizist:innen darin aus, queersensibel zu sein. „Wir sind auf das LSBTI-Netzwerk angewiesen und gehen auch aktiv auf die Szene zu, um den Menschen zu erklären, was wir machen“, erklärt Stipp. Das habe dazu geführt, dass die Anzeigen gegen LSTBI-Gewalt von 2018 auf 2019 um über 50 Prozent gestiegen seien. Damit sei die Hasskriminalität sichtbarer geworden.

Gute Zusammenarbeit

Bastian Finke vom schwulen Anti-Gewaltprojekt Maneo erzählt aus der eigenen Opferhilfearbeit: „Ich verstehe, dass es Menschen gibt, die Gewalttaten nicht anzeigen. Manche von ihnen sagen: Vor 30 Jahren war die Polizei unser Gegner.“ Aber eine Anzeige könne eine Form der Wehrhaftigkeit sein. „Manche sagen: Wir wollen, dass es in die Statistik kommt.“ Finke leitet Maneo seit über dreißig Jahren. Dort werden Zeug:innen, Opfer und deren Angehörige von schwulenfeindlicher Gewalt beraten, es wird Präventionsarbeit geleistet und vernetzt. Er betont, dass die Zusammenarbeit mit Polizei und Staatsanwaltschaft sehr gut funktioniere und er Betroffenen auch die Vorteile einer Anzeige erkläre: Die Statistik bringe die Arbeit zur Gewaltprävention voran, weil durch erhobene Daten Handlungsstrategien entwickelt werden können. „Aber niemand wird zur Anzeige überredet.“

Auch Jörg Steinert, bis Ende 2020 Geschäftsführer des Lesben- und Schwulenverbandes Berlin-Brandenburg (LSVD), beschreibt die Zusammenarbeit mit der Polizei als sehr gut. Der LSVD ist die größte queere Organisationen in Deutschland und für viele queere Menschen erste Anlaufstelle bei Gewalterfahrungen. Steinert sagt: „Berlin ist bei der Arbeit gegen Homophobie ein vorbildliches Beispiel, auch wenn die Auseinandersetzung mit Hasskriminalität mit negativen Schlagzeilen einhergeht.“ Gerade weil in Berlin so aktiv gegen anti-queere Gewalt vorgegangen werde, würde das Thema aus der Tabu-Ecke geholt werden. „Trotzdem ist das Hellfeld in Berlin nicht besonders groß“, sagt er.

Das Hellfeld – gemeint sind damit die Taten, die tatsächlich angezeigt werden. Dass queere Menschen Gewalt oft nicht anzeigen, ist für Steinert nichts Neues: „Das Anzeigeverhalten ist niedrig, weil viele Betroffene ihre Erfahrungen bagatellisieren und meinen: ‚Ich wurde nur angespuckt‘.“ Laut Monitoring werden von 97 lesbenfeindlichen Übergriffen nur drei angezeigt.

Gewalt gegen LGBTIQ* passiert meist spontan, im öffentlichen Raum, von Männern

Besonders häufig kommt Gewalt gegen LGBTIQ* laut dem Monitoring in den Bezirken Mitte, Tempelhof-Schöneberg und Friedrichshain-Kreuzberg vor – eben „überall dort, wo die Sichtbarkeit von LGBTIQ* gegeben ist“, so Steinert: „Dort sind sie auch sichtbar für Menschen, die hasserfüllt sind.“

Bei Großveranstaltungen wie dem jährlichen Christopher-Street-Day (CSD) ist die Wahrscheinlichkeit für queerfeindliche Gewalt deshalb besonders hoch. 67,3 Prozent der gemeldeten queerfeindlichen Gewalt finden im öffentlichen Raum statt – also in der U-Bahn, im Café oder auf der Straße. Am Wochenende ist die Wahrscheinlichkeit höher, Opfer von queerfeindlicher Gewalt zu werden: 40 Prozent aller Anzeigen betreffen Vorfälle an Samstagen und Sonntagen.

Der Bericht zeigt auch: Gewalt gegen LGBTIQ* passiert meist spontan, im öffentlichen Raum, von Männern und ist selten extremistisch motiviert. Nur in elf Prozent der Fälle ist die Tat durch Extremismus geprägt, also nach der Definition der Polizeistatistik „gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ gerichtet. Das heißt: Queerfeindlichkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Täter:innen finden sich in jedem Milieu. Die meisten Gewaltangriffe sind nicht körperlich, sondern verbal. Von im Monitoring 109 befragten queeren Frauen erlebten 52 Prozent in den letzten fünf Jahre verbale Gewalt.

Und obwohl die polizeiliche Statistik Meldungen binär erfasst und 83 Prozent der Opfer queerer Gewalt Männer sind, gibt es auch für queere Frauen eine große Gefahr, Gewalt zu erfahren: „Jede Lesbe/queere Frau* muss damit rechnen, zum Opfer lesbenfeindlicher Gewalt zu werden“, steht im Monitoring. Häufig werde lesbenfeindliche Gewalt nicht als solche erkannt. Laut Monitoring sind unter 100 Menschen, die antiqueere Gewalt anzeigen, nur 16 Frauen.

Woran liegt es, dass queere Frauen ihre Gewalterfahrungen weniger oft sichtbar machen? „Es liegt nicht daran, dass die Frauen sich zurücklehnen“, sagt Ina Rosenthal, frauen- und geschlechterpolitische Sprecherin der Berliner Grünen und Leiterin des Vereins RuT – Rad und Tat (Offene Initiative Lesbischer Frauen in Neukölln), der eng mit den Autor:innen des Monitoring zusammenarbeitete. „Frauen werden auch 2020 noch dazu aufgefordert, sich zurückzunehmen.“ Weil von ihnen erwartet werde, still zu sein, nicht aufzufallen, so Rosenthal, würden sie auch Unrecht eher abtun: „Einzufordern, dass man Gewalt anzeigt, ist dann ein Widerspruch dazu, nicht aufzufallen.“

Mehr Sichtbarkeit – mehr Gewalt? Da hilft nur: anzeigen! Foto: Britta Pedersen/dpa/picture alliance

Ein weiteres Problem, das Rosenthal sieht, ist das Zusammentreffen verschiedener Diskriminierungen: „Wenn man körperlich eingeschränkt ist, kann man sich überhaupt nicht so stark wehren.“ Wer nicht lesen könne, sei darauf angewiesen, dass andere ihm:ihr vorläsen. „Wenn ich sexuelle Gewalt erlebe von der Person, auf die ich angewiesen bin und die sagt, das machen alle so, untergräbt es das eigene Unrechtsbewusstsein.“ Das führe dazu, dass Behinderte nicht wüssten, an wen sie sich wenden können.

Die besondere Betroffenheit von Mehrfachdiskriminierten stellt auch das Monitoring fest: „Mehrfachdiskriminierung, also Erfahrungen mit weiteren vorurteilsmotivierten Diskriminierungen neben Homophobie, ist häufig“, steht dort. Etwa 17 Prozent der angezeigten Queerfeindlichkeit betreffe auch andere Dimensionen der Gewalt wie Antisemitismus, Rassismus oder Behindertenfeindlichkeit.

Uwe Marlaine Mädger, Vorstand von TransInterQueer e.V. (Triq), betont die Gewalt, die trans, inter und non-binäre Menschen im Medizinbereich erfahren: „Bei der Begutachtung, der sich transitierende Menschen unterziehen müssen, wenn sie das Geschlecht verändern wollen, geschieht manchmal Gewalt durch mangelndes Einfühlungsvermögen der Ärzte.“ Mädger bemängelt, dass auf diese Art der Gewalt im aktuellen Monitoring nicht vertiefend eingegangen wird – und hofft, dass das im nächsten Bericht nachgeholt wird.

Das nächste Monitoring wird transfeindliche Gewalt zum Schwerpunkt haben. Im aktuellen Monitoring steht: „Bereits jetzt ist nämlich klar, dass Trans*-Personen in besonders hohem Maß Opfer von Gewalttaten und insbesondere von körperlichen Angriffen werden.“ Das Monitoring zitiert eine Erhebung, nach der sechs Prozent der befragten LGBTIQ*-Personen angaben, innerhalb der letzten zwölf Monate Gewalt erlebt zu haben – unter den befragten trans Personen waren es 8 Prozent. Transfeindlichkeit ist also eine besonders verbreitete Form der Queerfeindlichkeit.

Wichtige Solidarität: Berliner Gedenken an die Opfer des Anschlags auf einen queeren Club in Orlando Foto: Tobias Seeliger/snapshot

Mehr Hilfe für Opfer

Auch Bastian Finke, der Leiter des schwulen Anti-Gewaltprojekts Maneo, steht dem Monitoring kritisch gegenüber: „Ich will das gar nicht kleinreden. Es ist wichtig, dass darüber gesprochen wird.“ Es mangele aber nicht an Studien, sondern an konkreten Handlungen. „Die Opferhilfe sollte ausgebaut werden.“ Der Senat hat im Rahmen der Umsetzung der IGSV bereits Antigewaltprojekte ausgebaut, die sich an queere Frauen richten. Dazu gehören das Antigewalt- und Antidiskriminierungsprojekt LesMigraS der Lesbenberatung und L-Suppot. Nicole Opitz

Rechts: Protokolle von queer-feindlicher Gewalt betroffener Frauen