berlin viral
: War das wieder ein schöner Tag heute!

Als Kinder verbrachten wir den Großteil des Tages mit Freunden draußen. Und kamen nur zum Essen nach Hause. Wir waren unbeaufsichtigt und ständig in Bewegung. Ach ja, die gute alte Zeit. Solche Eltern-Nostalgie kommt immer auf, wenn man mit anderen über die Kinder heute spricht: dauernd verplant von ihren Helikopter-Eltern, absolut unselbständig, dafür ständig vor Smartphone, Spielkonsolen und, und, und. Ich nehme mich da nicht aus. Auch ich habe oft etwas wehmütig an meine elektronikfreie Kindheit gedacht, wenn sich mein Sohn um 15 Uhr nach der Schule mit dem Handy in sein Zimmer verzog.

Aber jetzt ist Pandemie mit hartem Lockdown – und alles ist anders. Schule war ja schon vor Weihnachten nicht mehr, Kontakte sind drastisch einzuschränken, vor allem in Innenräumen. Und was passiert? Ungeheuerliches. Morgens um 8 steht mein 14-Jähriger freiwillig auf. Er macht sich allein Frühstück und verabschiedet sich dann mit „Bis später“. Um 9 ist er zum Joggen verabredet. Mit Freund H. Und „so ’nem Ehrenmann aus Leipzig“, bei dem es sich dem Vernehmen nach um einen Rentner handelt, der jeden Morgen seine Laufrunden absolviert. Ich kontrolliere das nicht, weil: siehe oben.

Anschließend kommt man nach Hause und zieht sich um. Dann aber schnell wieder los, denn mit seinen selbst gewählten „Corona-Kontakten“ H. und M. frönt man dem neuen Hobby Ringbahn fahren. Die Bahnen sind, so habe ich mir sagen lassen, zwischen den Jahren relativ leer. Die Jungs steigen jeden Tag woanders aus, fotografieren und kommen voller neuer Eindrücke zurück. Mal war man im Treptower Park („voll schön“), dann am Innsbrucker Platz („krass hässlich!“). Mal geht es per U-Bahn zur Krummen Lanke („überall Bonzen“), mal nach Friedrichsfelde („da wohnt H.'s Oma“). Abends sitzt ein ungewohnt ausgeglichener Teenager am Esstisch und seufzt: „War das wieder ein schöner Tag heute!“

Manchmal regnet es, aber das macht nichts, denn man kann – bis vor Kurzem undenkbar – trotzdem draußen sein. „Was habt ihr denn den ganzen Tag gemacht?“, frage ich nach einem besonders ungemütlichen Tag. Der Teenager schält sich aus Regenjacke, Kapuzenpullover, Wollpulli und Thermowäsche und sagt: „Wir haben unter dem Vordach vom Discounter gesessen und uns vorgelesen.“ Zum Beweis streckt er mir eine alte DDR-Ausgabe von Heinrich Manns „Der Untertan“ entgegen, die sie in einer Verschenke-Kiste gefunden haben. „Da war noch ein anderes altes Buch, das hat H. mit nach Hause genommen. Von einem Mann, der hat sich als Türke verkleidet und bei Mc Donald's gearbeitet. Das war damals schon ähnlich rassistisch wie heute.“ Günter Wallraffs „Ganz unten“ war 1985 ein Bestseller, damals habe ich das auch gelesen.

Es ist wie ein Déja-vu. Während meiner Dorfjugendzeit hatte ich ähnlich begrenzte Freizeitmöglichkeiten: bei Regen unterm Supermarktvordach sitzen und Chips essen, mit dem Fahrrad ziellos durch die Gegend gondeln, mit fremden Zufallsbekanntschaften reden. Schon erstaunlich, dass es eine Pandemie braucht, damit Jugendliche heute diese Art von Freiheit plötzlich schätzen, die mir vor 35 Jahren völlig normal erschien. Jetzt merken sie: draußen ohne Eltern mit guten Kumpels ist immer besser als drinnen allein mit dem Smartphone.

Gaby Coldewey